Mit seinen Dramen hat Roland Schimmelpfennig es bereits geschafft, der meistgespielte Theaterautor in Deutschland zu werden. Jetzt hat er erstmals einen Roman geschrieben: »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhundert«. Das Buch ist eine wilde Mischung aus Märchen und kalter Realität.
In kurzen Kapiteln entwickeln sich parallel verschiedene Handlungsstränge. Da ist etwa der schweigsame Tomasz, der als Bauarbeiter in Polen und Berlin arbeitet und dessen Freundin schwanger ist von einem anderen Mann. Da ist ein junges Teenagerpaar, das von zu Hause flieht und in Berlin nach Unterschlupf sucht. Da sind deren Eltern, die sie suchen; der alkoholkranke Vater des Jungen, die cholerische geschiedene Mutter des Mädchens, deren Künstlerkarriere stockt. Da ist auch eine Frau, die nach dem Tod ihrer Mutter nicht mit letzterer abschließen kann und deren Tagebücher verbrennt. Da ist ein verrücktes Paar, das einen Kiosk in Berlin führt. Und alles wird ummantelt von einer kalten, winterlichen Atmosphäre und einem Wolf, der bei Frankfurt an der Oder auftaucht und nach Berlin zieht.
Schimmelpfennig gelingt es, die Handlungsstränge lose zu verknüpfen und wieder aufzulösen, denn alle finden irgendeinen Bezug zum Wolf. Er verweist die Protagonisten immer wieder auf sich selbst. Surreale Dinge, wie das Auftauchen des Tieres, das etwa dem Kioskbesitzer Charly seine rohe animalische Seite zeigt und ihn zum Jäger werden lässt, werden verwoben mit realen Orten und konkreten sozialen Problemen. Und dadurch, dass klare, realistische Beschreibungen zuweilen mit märchenartigen Sätzen vermischt werden, entsteht ein deutlicher Kontrast, der dem Buch eine hohe, sich nicht auflösende Spannung verleiht.
All das gelingt ihm mit oft schlichten, kurzen Beschreibungen, die sich teils wie Regieanweisungen lesen. Schimmelpfennig entwirft eine neue Poesie der Einfachheit, die Berliner Momentaufnahmen mal einen melancholischen, mal auch einen grotesken Hauch verleihen.
Die Probleme und die Charaktere der Protagonisten sind aber das Interessanteste an dem eigenartigen Roman. Denn der Leser erfährt so gut wie nichts über das Innenleben der Figuren. Zwar kann man erahnen, dass das Mädchen flieht, weil die Mutter es verprügelt; aber es bleibt offen, warum etwa der Vater des Jungen zum Alkoholiker wird oder warum eine Frau Probleme mit ihrer Mutter hatte oder warum es Tomasz schwer fällt, allein zu sein. Vieles bleibt so mysteriös wie der immer wieder auftauchende Wolf, zumal die meisten Protagonisten recht wortkarg sind, manchmal sogar schemenhaft wirken. Sind sie es nicht, wie die Kioskbesitzer, so verkommen die Dialoge zu hypernervösen Gesprächen.
Damit gelingt Schimmelpfennig so etwas wie das Gegenteil des modernen Bewusstseinsstroms. Sein Gegenentwurf ist die Unmöglichkeit, in einer komplexen Welt, voll von sozialer Ungerechtigkeit und Kälte, menschliche Handlungen in ihren Motivationen noch darlegen oder analysieren zu können. Die Literatur wird dramaturgisch weitgehend auf das äußere Geschehen verwiesen. Das Ergebnis ist ein strikter Minimalismus, der zwischenmenschliche Probleme bewusst lediglich an der Oberfläche streift und damit nicht nur den Ausgang des Romans offen lässt.
Erstaunlich an diesen Debütroman ist seine große Kunst, Unterschiedlichstes zu vereinen - Minimalismus, Märchenhaftes und Konkretes, Oberflächliches, Tiefgründiges und Melancholisches, Gesellschaftliches und Privates, Suchen und Verlorengehen im Urbanen, Liebe und Kälte - und dabei doch den Leser zu fesseln.
Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Morgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, S. Fischer, 256 S., geb., 19,99 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1005421.poesie-der-einfachheit.html