nd-aktuell.de / 30.03.2016 / Kultur / Seite 14

Wahrheit ist Blödsinn

Poesiealbum Valentin

Hans-Dieter Schütt

Das Werk dieses Münchner Genies rüttelt wie die Reden Landauers, die Schriften Mühsams, die Stücke Achternbuschs und das Spiel Bierbichlers am Beton eines blöden linken Vorurteils: Bayern sei reaktionär. Nie! Es ist in seinen besten Köpfen Anarchie! Karl Valentin zum Beispiel. Er erzählt den störrischen, partisanisch langsam denkenden Menschen, erzählt aber auch den Erbarmungswürdigen, dessen verwirrte Seele daliegt wie eine nackte, enthäutete Weißwurscht. Dieser Poet ist gewappnet mit der stärksten Gewissheit: Nichts ist möglich - jedenfalls so lange man noch lebt. Dass Valentin, geboren 1882, ausgerechnet am Rosenmontag starb, 1948 - es war der letzte komische Streich eines großen Lebenswahrheits-Kompetenten.

Matthias Biskupek, selbst ein ausgewiesener Humorist der höheren Sinngebung, der in seinen Büchern so sehr lästert, wie er liebenswert bleibt - er hat in der Reihe »Poesiealbum« Verse Valentins herausgegeben. Was den unverwechselbaren, gezielten Reiz dieser Auswahl prägt: dass sie aus der Verflixtheit des Alltags (Frauensuche, Salatrezept und legendäres Lob aller Jahrszeiten) hinüberleitet zu bitterböse-balladesken Attacken auf Sozialnot und Kriegstreiberei, Propagandagift und Manipulationselend. Gedichte und Sprüche: »Hoffentlich wird es nicht so schlimm, wie es schon ist!«

Hermann Hesse meinte, Valentins Kunst führe »übergangslos von Blödsinnstexten an den Abgrund tiefster menschlicher Trauer«. Bei der Lektüre seiner Verse sieht man die staksige Unfigur zum Vergnügen von Zugehfrauen und Budenbesitzern auf Münchner und Berliner Kleinbühnen krächzend durch die surrealen Späße stolpern - und zwar so lange, bis höhere Logik und bürgerliche Vernunft unter Protest den Saal verlassen.

Späße? Schon diese Bezeichnung verharmlost. Valentins Texte sind Konstruktionen, die quer durch irgend einen Alltagsausschnitt mäandern und sich via Versprecher, Irrtümer und Sprachschleifen in eine vierte Dimension hinaufschrauben. Da wird eine naive wie raffinierte Freiheit des Denkens behauptet, und dies nicht mit Mitteln einer gesicherten Akademie, sondern gleichsam per Bierdeckel und pure Renitenz. Dauernd beschreibt Valentin die Moderne in ihrer gottverlassenen Relativität, und im Grunde kreisen alle Gedichte um jenes menschliche Unvermögen, dass er einmal in die Worte fasste: »Es ist schrecklich ist es. Immer wenn man glaubt, jetzt findet man endlich einen Ausweg, stellt sich einem wieder das Nichts entgegen. Und aus Nichts entsteht nichts.« Aber hat Gott nicht just aus dem Nichts die Welt gemacht? »Ja, aber wiiir könnens net.«

Allgemeine Sprachverkümmerung und Geisteszerbröselung sind Gegenstand, parodiertes Moment und zugleich Kunstanstrengung des Nonsens. Biskupeks Auswahl bekräftigt so jenes Unglück, dem Karl Valentins Poesie Ausdruck gibt. Ob große oder kleine Katastrophen - der Deutsche fragt danach immer, ob man schon wieder lachen, nicht aber, ob man schon wieder denken darf.

Poesiealbum 322: Karl Valentin. Auswahl: Matthias Biskupek, Grafik: Rainer Ehrt. Märkischer Verlag Wilhelmshorst. 32 S., 5 €.