nd-aktuell.de / 31.03.2016 / Kultur / Seite 16

Pilger durch Minuten

Katerina Poladjan erzählt von Menschen auf der Flucht vor sich selbst

Irmtraud Gutschke

Hätte sie sagen sollen, mein Mann ist tot … Hätte sie sagen sollen, dass sie seit Eds Tod immer das Gefühl hat, als seien die Menschen, die ihr begegnen, nur Schemen … Hätte sie sagen sollen, dass sie dabei ist, alles hinter sich zu lassen?« Dass Annerose Rauch ihn anlügt, wäre Kommissar Luc Gaspard im Dienst, er würde es vielleicht spüren. Doch da er selbst im Moment ein wenig neben der Spur ist, glaubt er ihr, dass sie zu Verwandten nach Bozen unterwegs ist. Er will von Salzburg nach Marseille zu seiner Familie. Will er es wirklich? Er ist den Erwartungen seiner Frau nicht gerecht geworden, die Stelle bei Europol in Den Haag wird er wohl nicht bekommen. Als Ann im Auto neben ihm sitzt, merkt er irgendwann, dass sie ihm gut tut, diese viel ältere Frau. Wie sie ihn fragt, wie er sich öffnet. Wie sie in jenem Gasthof abends vor ihm die Treppe hochsteigt. Er könnte sich sogar vorstellen, mit ihr dort zu bleiben, wo sie sich liebten. Aber am Morgen ist sie weg - mit seinem Auto.

Katerina Poladjan hat Sinn für Dramatik. Beim Lesen gerät man von einer unerwarteten Verwicklung in die andere. Luc bei Blitz und Donner allein im Gebirge, und in einem Haus bei München schaut ein Wildschwein durchs Fenster. Wenn die gewohnte Ordnung Risse bekommt, dringt das Chaos ein. Oder, positiv ausgedrückt, wenn eine Erstarrung sich löst, wird vieles möglich.

Erstarrung, Trauer, Leere, Verwirrung - die Autorin, 1971 in Moskau geboren, weiß sehr genau über diesen Zustand Bescheid und verfügt über eine ungemein bewegliche, klare deutsche Sprache, um ihn zu beschreiben. In vierfacher Brechung, weil Ann, ihr Sohn Theo, Luc und seine Frau Miyu jeweils auf eigene Weise Krisenhaftes durchleben. Für Ann ist es am schlimmsten. Fast ohne Unterbrechung denkt sie an Ed, ihren vor acht Monaten verstorbenen Mann. Wenn ihr Sohn fürchtet, sie könnte sich im Keller ihres Hauses erhängt haben, läge das im Bereich der Möglichkeiten. Die Flucht war Lebensrettung, aber sie setzt eine Kettenreaktion in Gang. Mehrere andere Leute geraten in schwierige Lage, werden in Ängsten und Zweifeln durchgeschüttelt, kommen von ihren gewohnten Wegen ab. Und wo sie anlangen werden - mit der letzten Seite ist die Geschichte noch längst nicht zu Ende.

Man kann nichts voraussehen. Sollte das die Quintessenz sein? Menschen auf der Flucht vor sich selbst - in wie vielen Romanen ist das schon beschrieben worden. Man staunt, wie spannend es hier gelingt. Eine mitreißende Melodie und darunter, wie gesagt, ein dumpfer, dunkler Ton, der irgendwann für Augenblicke übertönt werden wird, aber ganz verschwinden wird er nie. Das Geordnete, Gesicherte eine Illusion. »Früher dachte ich, die Zeit fliegt mir davon, bis ich begriffen habe, dass wir Pilger sind, Pilger durch Minuten, Stunden, Äonen.« Das sagt Anns Schwester Johanna, in einem Tagtraum, der Lebende und Tote vereint. »Denn das Leben ist mehr, als er dachte« - dieser Satz im Roman könnte jeder Gestalt zugeordnet sein.

Katerina Poladjan: Vielleicht Marseille. Rowohlt Berlin. 176 S., geb., 18,95 €.