Kritik und Applaus

Juan Gabriel Vásquez wirft unbequeme Fragen auf

  • Ute Evers
  • Lesedauer: 3 Min.

Javier Mallarino, 65 Jahre, mit einer eigenartigen Glatze, die keinem auf den ersten Blick auffällt, steht vor dem beruflichen Höhepunkt. Als politischer Karikaturist der Tageszeitung »El Independiente« (Der Unabhängige) soll er die Auszeichnung als kritisches Gewissen des Landes »von ganz oben« erhalten. Das, was er vier Jahrzehnte lang vermieden hatte, sein Gesicht dem Publikum zu offenbaren, wird jetzt mit der öffentlichen Ehrung ein Ende haben. Es ist ausgerechnet »dieselbe politische Klasse, die er aus seinem Schützengraben so unbeirrt attackiert, bedrängt, verachtet ... hatte«, die nun nach der Ehrung ruft.

Hatte ihm seine Macht aus sicherer Anonymität heraus »kindliches Vergnügen« bereitet, wird diese mit der gesellschaftlichen Anerkennung verletzbar. Nicht mehr nur seine markante Unterschrift wird seine Karikaturen identifizieren. Es kommt jetzt ein Gesicht hinzu. Das kann in einem Land existenzielle Folgen haben, wo man »die Leute für weit weniger umbringt«, erinnert er sich vor den Feierlichkeiten an die Worte seiner Ex-Frau Magdalena.

Eigentlich wollte er Architekt werden. Nachdem er sein Talent als Maler entdeckt hatte, sollten ihn die Karikaturen finanziell über Wasser halten. Mit der Zeit verwandelte sich seine »Anonymität in Reputation und diese dann in Berühmtheit«. Er opferte die Malerei dem Leben als erfolgreicher Karikaturist. Doch das war auch gefährlich, er erhielt von »Patrioten« anonyme Drohbriefe, verlor Freunde, die sich durch seine Zeichnungen verletzt fühlten, selbst Familienmitglieder distanzierten sich von ihm. Doch »die Opfer hatten sich gelohnt: da war die Reputation, da war das Prestige«. Was ihm eigentlich nicht behagt, denn »kümmerlich ist das Gedächtnis, das sich nur rückwärts wendet«. Dann erfolgt sein Aufritt im Nationaltheater Teatro Colón, »die Attacke der Scheinwerfer, der tosende Applaus, der wie ein Windstoß war, sein Dröhnen wie Platzregen«.

Und der Tag danach? Da steht dann Samanta Leal vor seiner Haustür. Sie gibt sich als Journalistin aus, ist aber keine. Sie wird das Leben des Karikaturisten gründlich auf den Kopf stellen. Samanta ist das Mädchen, das vor 28 Jahren (1982) mit seiner Tochter in diesem Haus gewesen war, es gab eine Einweihungsfeier, die jäh von einem Skandal unterbrochen wurde. Auf den hatte er natürlich mit einer Karikatur geantwortet, die am folgenden Tag veröffentlicht wurde. Mallarino traf mal wieder ins Schwarze, der Erfolg war schallend. Für ihn schien damit alles erledigt. Nun aber, nach fast drei Jahrzehnten, steht diese junge Frau vor ihm, die ihn zwingt, sich wieder zu erinnern, auch an die Konsequenzen, die seine Karikatur provoziert hatte. Erinnerung spielt tatsächlich eine entscheidende Rolle, denn sie kann fiktiv, erfunden oder falsch sein. Dessen wird sich Mallarino, der nach so viel Erfolg nicht uneitel geblieben ist, immer bewusster ...

Viele Fragen wirbeln durch den Roman: Wo liegen die Grenzen zwischen politischer Korrektheit und der Wahrung von Werten wie Freundschaft oder Familie? Was bedeutet es, wenn die eigene Reputation auf dem Spiel steht? Kann ein Künstler die moralische Instanz seines Landes werden? Wie viel Macht üben die Medien auf die Macher aus? Schonungslos kratzt der allwissende Erzähler dabei auch an den Schwachstellen der kolumbianischen Gesellschaft, »eines Landes, mit einer langen Krankheitsgeschichte ..., in dem das Vergessen das einzig Demokratische war«.

Die Lektüre ist spannend und anspruchsvoll. Nicht immer ist es einfach, den Sprung von einer Erzählebene in die andere nachzuvollziehen, so fließend sind mitunter die Übergänge. Der Roman verlangt dem Leser Aufmerksamkeit ab. Man gibt sie gerne, liest man doch selten auf so wenigen Seiten so viele kluge Dinge. Juan Gabriel Vásquez, 1973 in Bogotá geboren, gehört zu den talentiertesten lateinamerikanischen Erzählern unserer Zeit, daran besteht kein Zweifel.

Juan Gabriel Vásquez: Die Reputation. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Schöffling & Co. 192 S., geb., 19,95 €.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal