nd-aktuell.de / 07.04.2016 / Kultur / Seite 17

»Mach weiter, und denk an die Details«

Samanta Schweblin: »Das Gift« - zwischen Mystifikation und erschreckenden Tatsachen

Irmtraud Gutschke

Nachdem ich das schmale Buch in einem Zug gelesen hatte - es geht nicht anders, und es geht schnell -, schlug ich wieder die erste Seite auf, begann noch einmal von vorn. Was ist geschehen?

»Das Gift« hat der Roman von Samanta Schweblin ja schon im Titel. Zwei Menschen sprechen darüber. Der Ort ist eine Krankenstation. Die Frau, Amanda, wird daran sterben. Der Junge, David, lebt schon eine ganze Weile damit. Er hat es, dank einer Heilerin, nur in geringerer Dosis im Körper. Aber er möchte herausfinden, wie es dort hineingekommen ist, und drängt die Frau, sich zu erinnern. Frage, Antwort. Amanda erzählt von sich und ihrer kleinen Tochter. Sie haben ein Ferienhaus in der Pampa gemietet - von Carla, Davids Mutter, die ihr erst gefiel, sie dann aber ängstigte. Warum?

Das ist der Trick der argentinischen Autorin: mit untergründigen Ängsten zu spielen. Der Angst, jemand Freundliches könnte einem übelwollen, und vor allem der mütterlichen Sorge um das Kind.

»Mein Gott, wo ist Nina?«

Immer wieder solche Ausrufe. Schon bevor sie erkrankte, hatte Amanda dauernd den »Rettungsabstand« zu ihrer Tochter im Blick. Wenn sich der »Faden« spannte, geriet sie in Panik. Ein Vorgefühl, möchte man meinen. Aber Carla scheint zumindest ebenso verrückt. »Zwei exzessiv liebende Mütter, deren Schicksale auf mysteriöse Weise miteinander verbunden sind«, sagt der Klappentext. »Packende fantastische Literatur.«

Das ist eine Deutung, die von der Autorin zugelassen wird. Von einer Heilerin ist die Rede, die kranken Kindern durch »Transmission« helfen kann. Nachdem David dort war, vermag ihn Carla nicht mehr als ihren Sohn zu erkennen, nun sucht sie seine Seele. In Nina vielleicht? Sollen wir uns wirklich auf diesen Pfad begeben und verschüttetes magisches Bewusstsein in uns wiederentdecken? Oder sollen wir lieber hinter die Mystifikationen schauen, mit denen die Autorin uns erst einmal den Blick verstellt? Tut sie das der Spannung halber? Oder erschien ihr eine gewisse Vorsicht angebracht?

Wer nach den realen Hintergründen der Geschichte sucht, wird fündig. Mehrmalige Lektüre lohnt sich auf jeden Fall. »Mach weiter, und denk an die Details!«, sagt David zu der todkranken Amanda. Es sind wenige Sekunden, ihr selbst nicht bewusst, dass sie mit dem Gift in Berührung kam. Das Gift - Leser mögen vielleicht sogar den Namen erraten - ist in der Tat so gefährlich, dass auch wir davor Angst haben könnten. Haben müssen, denn der Produzent - errate den Namen - exportiert auch auf den deutschen Markt.

Aber das sind keine politischen Enthüllungen mehr, aus denen sich Sensationen machen lassen. Samanta Schweblin hat dem Verlag »packende fantastische Literatur« angeboten und alles weitere dem Scharfsinn des Lesers überlassen.

Der hat die Freiheit, sich zwischen literarischem oder wirklichem Horror zu entscheiden.

Samanta Schweblin: Das Gift.[1] Roman. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp. 127 S., geb., 16,95 €.

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  1. http://www.nd-aktuell.de/shop/article/9783518425039