Das Schlimmste, sagt Hans-Joachim Gäbler, war der Kübel. Ein Bottich, in dem in der Viererzelle die Fäkalien gesammelt wurden und der am Abend aus der vierten Etage des Zellenbaus »Bremen« in den Hof getragen und entleert werden musste. Im Laufschritt, in Holzschuhen. Es war, sagt Gäbler, »ein hartes Dasein«.
Waldheim, im April 2016: Das älteste in Betrieb befindliche Gefängnis in Deutschland begeht sein 300-jähriges Bestehen. Seit 170 Jahren saßen in dem sächsischen Knast immer wieder auch politische Häftlinge ein: zunächst Barrikadenkämpfer von 1848, im 20. Jahrhundert erst Gegner des NS-Regimes, dann Verurteilte der »Waldheimer Prozesse«, in denen Funktionsträger des Naziregimes, aber auch Unschuldige im Schnellverfahren zu oft hohen Haftstrafen oder zum Tod verurteilt wurden. In einem Gedenkjahr in Waldheim wird auch an sie erinnert; Zeitzeugen aber gibt es kaum noch.
Gäbler ist ein Zeitzeuge; er hat einige Verurteilte der Waldheim-Prozesse noch getroffen, als er im November 1951 in das Gefängnis eingeliefert wurde, verurteilt zu 15 Jahren Zuchthaus. Er habe später mit einem Mörder die Zelle geteilt, erinnert er sich: »Der wunderte sich, dass ich bei dem Urteil nicht auch einen umgebracht hatte«, sagt er. Gäbler hatte indes kein Menschenleben auf dem Gewissen; vielmehr war er mit dem jungen Staat in Konflikt geraten. Er gehörte einer Gruppe Oberschüler im sächsischen Werdau an, die in Flugblättern oder mit an Mauern geschriebenen Parolen etwa die erste Wahl zur Volkskammer 1950 als undemokratisch kritisiert hatten. Als die Gruppe 1951 aufflog, griff der Staat zu drakonischen Strafen. Insgesamt 130 Jahre Zuchthaus wurden in einem 16-stündigen, nicht öffentlichen Prozess in Zwickau verhängt; gut elf Prozent entfielen auf den erst 19 Jahre alten Gäbler.
Wenn es um das Gefängnis ging, das in der Stadt an der Mulde mitten im Ort hinter meterhohen Steinmauern liegt, gab es in der DDR einen etwas flapsig wirkenden Spruch: »Wer nichts riskiert, kommt nicht nach Waldheim.« Für Menschen wie Gäbler oder Thomas Ammer klingt das eher zynisch. Auch Ammer hatte sich mit dem politischen System der DDR angelegt. Er war maßgeblicher Akteur im »Eisenberger Kreis«. Dessen Mitglieder hatten im Herbst 1952 zunächst gegen den Schulausschuss dreier Mitschüler protestiert, die in der »Jungen Gemeinde« waren. Sie waren nach einem politischen Richtungswechsel Anfang 1953 an der Schule wieder zugelassen; die Gruppe hatte sich indes weiter politisiert. Zu den spektakulärsten Aktionen gehörte der Protest gegen eine Militarisierung der DDR kurz vor Gründung der Nationalen Volksarmee; ein von Kampfgruppen und Polizei genutzter Schießstand wurde Anfang 1956 dabei in Brand gesteckt. »Eine Bretterbude«, erinnert sich Ammer. Die Staatsorgane indes nahmen die Vorfälle äußerst ernst. Als der »Eisenberger Kreis« nach immerhin acht Jahren ausgehoben wurde, hagelte es im Herbst 1958 harte Urteile. Ammer wurde wie Gäbler zu 15 Jahren verurteilt; einen Teil der Strafe verbüßte auch er in Waldheim.
Der Name der Stadt steht in beider Leben für eine finstere Zeit - so wie er in der Bundesrepublik generell zur Chiffre für mitleidlose Bestrafung von widerständigem Handeln wurde. »Man hat versucht, Rache zu üben«, sagt Ammer. Zugleich scheint das Agieren der DDR-Justiz von einer seltsamen Ambivalenz getrieben. Einerseits hätten die Richter »geurteilt im Bewusstsein, unser Leben zu zerstören«, sagt Gäbler unter Tränen. Andererseits erinnert er sich an ein Gespräch, in dem ihm im Sommer 1956 die vorzeitige Entlassung angeboten wurde, falls er zusagt, in der DDR zu bleiben. Gäbler spricht von der »Angst, dass sie uns verlieren«. Er sagte nicht zu, kam erst im September frei und ging Ende 1956 in die Bundesrepublik. Sechs Jahre später war die Verlustangst bei den Behörden wohl passé: Ammer gehörte 1964 zu den ersten Häftlingen der DDR, die die Bundesrepublik für Devisen freikaufen konnte.
Erst ein halbes Jahrhundert später kehrten beide nun nach Waldheim zurück. Ihre Erinnerungen rufen ein Stück aus 300 Jahren Gefängnisgeschichte in Erinnerung, - und ein Stück Geschichte der frühen DDR, die jugendliche Opposition mit Macht und Härte in die Schranken wies. Der junge Staat sollte auf diese Weise stabilisiert werden. Welche Schicksale aber nahm man dafür in Kauf, und was wurde erreicht? Gerhard Schneider, heute 84, blieb als einziger aus dem Werdauer Kreis nach der Haft in der DDR, seiner Freundin zuliebe. Im Betrieb sollte er später für die SED geworben werden. Schneider lehnte dankend ab.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1008197.die-angst-dass-sie-uns-verlieren.html