nd-aktuell.de / 16.04.2016 / Kultur / Seite 32

Das Staunen nie verlernt

Michael Succow, Biologe, Moorökologe und Alternativer Nobelpreisträger, schuf einst das Nationalparkprogramm der DDR, reist heute für den Naturschutz um die Welt und hält den Menschen nicht für das Ende der Evolution. Ein Besuch zum 75. Geburtstag

Astrid Kloock

Wir gingen spazieren. Mutter Käthe, meine Schwester Maren und ich. Es war im Frühling. Da sah ich die großen Vögel. Die Hähne tanzten in der grünen Saat. Ihre aufgestellten Flügel leuchteten wie weiße Federbälle. Meine Augen wurden groß, und der Mund machte O. Das müssen Strauße sein!» Die tanzenden Vögel waren Großtrappen. Mutter Käthe, gelernte Geflügelzüchterin, die in Südafrika Straußenfarmen eingerichtet hatte, erklärte es dem siebenjährigen Sohn.

Hochzeitstanz der Trappen. Der Fünfundsiebzigjährige Michael Succow erinnert sich, als wäre es gestern gewesen. Er erinnert sich auch an die Frösche und pockigen Kröten auf einem Gutshof im Fontane-Land, die er so lieb gewann, dass er sich nicht von ihnen trennen wollte. Und im Gedächtnis geblieben sind ihm die vielen «bunten Vögel» auf dem Wasser, die Blessrallen, Haubentaucher, Enten, deren Namen er als Fünfjähriger noch nicht kannte, damals, als die Eltern 1946 mit Pferden und Treckwagen von Schleswig-Holstein auf dem Paulsdamm «mitten durch den Schweriner See» durch Mecklenburg zogen. «Fürs Staunen habe ich ein gutes Gedächtnis», sagt er.

Stehenbleiben. Schauen. Versonnen sein - für das Kind Michael war die Welt voller Wunder, auf dem elterlichen Bauernhof in Lüdersdorf im östlichen Brandenburg und überall. Nach dem Staunen kamen die Fragen. Mutter Käthe hatte erheblichen Anteil daran, dass sie beantwortet wurden. Sie war gebildet, ein Schöngeist, mit religiöser Ehrfurcht vor der Schöpfung und irdischer Liebe zu ihrem Garten. Die Spaziergänge durch die Felder mit ihr und Schwester Maren sind fester Bestandteil von Michaels Kindheitserinnerungen. Hin und wieder brachte er seiner Mutter ein Dankeschön in die Küche: Eier, aus Krähen- und Elsternestern gestohlen. Dann gab es Rührei zum Abendbrot. Vater Wilhelm freute sich. Er war ein begnadeter Landwirt, disponibel, sparsam. Der Hof stand im Mittelpunkt. Er achtete die Natur, der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens galt seine ganze Aufmerksamkeit.

Michael und die Natur. Die guten Gefühle hatten ihre Reihenfolge. Das Staunen war zuerst. Dann kam die Liebe zu Pflanze und Tier. Dann die Verantwortung. Er war etwa zehn, als Vater Wilhelm ihm die Schafe anvertraute, 24 Schafsköpfe, er liebte besonders den wunderbaren, stattlichen Schafbock. Nach dem Unterricht flog der Ranzen in die Ecke. «Schule war für mich kein Gegenstand.» Die Schafe durften nicht auf die Äcker, mussten an den Wegrändern bleiben; die waren, voll mit Wildkräutern und Gräsern, fette Mahlzeit. Beim Hüten half ihm Prinz, sein Hütehund. Michael hatte ihn geerbt vom Schäfer Johann.

Die Geschichte vom Schäfer Johann hat Michael Succow als Parabel mit in sein Leben genommen. Johann, ein Gutsschäfer, verbrachte die Friedeberger Schafe, eine Musterherde, von Deutschland in die Sowjetunion. Reparationsleistungen dieser Art waren nicht unüblich in den Jahren nach dem verlorenen Krieg. Johann führte die Tiere, zusammen mit seinem Hütehund, bis nach Kasachstan. Tausende Kilometer zu Fuß. 1949 kam der Schäfer zurück nach Deutschland, zu Fuß, alt und krank. - «Er kam auf unseren Hof», sagt Succow, «ein weiser Mann, ein Aksakal, wie es in den Turksprachen heißt. Er konnte überleben, weil er sich in der Natur auskannte und ihr vertraute. »Ich war in unserem Dorf der Schafmichel und ein glückliches Kind. Es gab eine Zeit, da wollte ich Schäfer werden«, sagt Succow.

Der »Schafmichel von Lüdersdorf« wird am 21. April 2016 fünfundsiebzig Jahre alt. »Ist das nicht wunderbar?« sagt er, »ein Dreivierteljahrhundert Leben! In meinem Garten begrüßte mich in diesen sonnigen Frühlingstagen das erste Bachstelzenpaar, der rote Milan kreiste und die Rotkehlchen jagten sich im Gebüsch. Sie machen sich jetzt auf den Weg über die Ostsee. Erstaunlich, was die kleinen Kerle leisten.«

Michael Succow: Biologe, Agrarwissenschaftler, Bodenkundler. Staunen ist sein Markenzeichen. Er ist eine Koryphäe der Moorkunde, in der er 1970 promovierte und sich 1981 habilitierte. 1990 war Succow kurzzeitig Stellvertreter des Ministers für Natur-, Wasserwirtschaft und Umweltschutz der DDR. Auf sein Bestreben wurde auf der letzten Sitzung des Ministerrates das wegweisende Nationalpark-Programm beschlossen, das 4,5 Prozent des DDR-Territoriums als Nationalpark oder Biosphärenreservat unter Schutz stellte.

Nach der Vereinigung baute er das Institut für Botanik und Landschaftsökologie an der Universität Greifswald auf. 1997 wurde er in Stockholm mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt in Anerkennung seiner Verdienste um die Einrichtung vieler Naturschutz-Großreservate in Ostdeutschland, Osteuropa und Asien. Mit dem Preisgeld gründete er 1998 die »Michael-Succow-Stiftung zum Schutze der Natur«, die in Deutschland und weltweit Biosphärenreservate und Nationalparks initiiert, etwa in Russland, der Mongolei, Kirgistan, Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Aserbaidschan, Weißrussland, Äthiopien.

Ein Leben im Zeitraffer. Viel ist passiert in den vergangenen fünfzig Jahren, in denen sich Michael Succow um den Schutz von Natur und Umwelt gekümmert hat. Seit es die Michael-Succow-Stiftung gibt, ist er als »Stiftungsreisender« in der Welt unterwegs. Er hat gesehen, wie die Natur unter den Menschen leidet und umgekehrt. Die Erkenntnisse der Wissenschaft sind erdrückend, die Folgen des Klimawandels messbar. Keine Generation vor uns hat die eigene Lebensgrundlage so existenziell angegriffen wie wir im letzten halben Jahrhundert. Der Mensch meint klüger zu sein als die Natur und zerstört sein wunderbares ökologisches Haus. Der moderne Prometheus!

Stehenbleiben. Schauen. Versonnen sein. Staunen. Wie wenige seiner Profession hat Michael Succow die Fähigkeit, neben dem Furchtbaren immer wieder das Wunderbare zu sehen. Wie geht das, wenn die Welt am Abgrund steht? »Der Abgrund ist da, und der Welt ist es egal, ob wir springen oder nicht. Die Evolution ist damit nicht am Ende. Die Evolution ist für mich ein Wunder und ein Rätsel zugleich, kraftvoll und stark. Es wird sie geben, auch wenn wir sterben. Die Frage ist an uns gerichtet. Springen wir freiwillig? Ich nicht. Ich möchte auch im nächsten Jahr das Rotkehlchen wiedersehen und mich freuen, wenn meine Ulla mir zum Geburtstag einen Veilchenstrauß schenkt«, sagt Succow.

Das Projekt Natur geht nicht pleite. Das Projekt Mensch möglicherweise schon. In der Natur ist alles mit allem verwoben und auf ein Gemeinwohl ausgerichtet. So bleibt das ökologische Haus erhalten. So ist auch unser Körper eingerichtet. »Ich glaube nicht, dass unsere jetzige Gesellschaft, eine kapitalistische Verabredung, in der Lage ist, sich mit der Natur auszusöhnen. Es widerspricht ihrer Logik des Verdrängens und der Konkurrenz. Beweise dafür habe ich auf meinen Reisen gesehen«, sagt er.

Im Osten Amerikas gibt es keine Primärwälder mehr, sie sind schon seit langem dem Kampf gegen die Ureinwohner und nachfolgend dem Ackerbau zum Opfer gefallen. In China und Mittelasien, entlang der Seidenstraße, sind Oasenkulturen gestorben. Wo jahrhundertelang die Karawanen zogen, ist heute Salzwüste, und es wird in menschlichen Zeiträumen niemals wieder so viel Süßwasser geben, dass sie sich regeneriert. »Ich bin Stunde um Stunde durch die Wüste Taklamankan gefahren. Das Leben flieht. Der Stärkere setzt sich durch - falsch verstandener Darwinismus. Die Selbstheilungskräfte der Natur sind nicht unerschöpflich.«

Im Februar dieses Jahres ist Michael Succow in die südafrikanische Republik Botswana gefahren. Hier leben die San, feingliedrige zierliche Menschen mit gelblicher Haut, vormals ein verbreitetes Volk in Afrika, Ausgangspunkt der menschlichen Zivilisation. Von Völkern des Subsahara-Afrikas wurden sie abgedrängt. Sie überlebten in der Kalahari als Jäger und Sammler. Ihr tiefes Naturwissen half ihnen dabei. Heute leben noch drei kleine Gruppen der San in verschiedenen Räumen. Wie in Südafrika gibt es auch in anderen Teilen der Welt kleine Völker, die sich in Extremräumen einrichten und vielleicht die Kraft zur Erneuerung haben - eine Chance im Menschenzeitalter? »Es ist unsere Pflicht, diese Kulturen zu erhalten. Gegenwärtig sehe ich kaum eine Möglichkeit, ihren Schutz zu zertifizieren. Die UNESCO bewahrt die Schätze der Natur und der Kultur als Welterbe, beispielsweise unsere Buchenwälder auf den Kreidefelsen an der Ostsee oder die ägyptischen Pyramiden, Zeugen einer untergegangenen Zeit. Für Kulturen mit lebenden Menschen gibt es keine Kategorie«, sagt Succow.

Das Projekt Mensch ist gefährdet. Der Kapitalismus wird es nicht richten. Die letzte Utopie ist gescheitert. Reimar Gilsenbach, Naturschützer und Poet in der DDR, sagte das so: Der Sozialismus war die schönste Utopie, die sich die Menschheit ausgedacht hatte, aber sie funktioniert nur für zwei, die sich lieben, und auch dann nicht auf Lebenszeit. Was sagt der Naturschützer Succow? »Es reicht nicht, die Natur zu schützen. Wir müssen der Natur mit dem Menschen eine Zukunft geben. Wir müssen auch die frühen Kulturen der Menschheitsgeschichte bewahren. Dafür eine neue Kategorie zu schaffen bei der UNESCO, das ist meine Vision.« Er will mit Jakob Uexküll, dem Vorsitzenden des Weltzukunftsrates, diese Frage bereden. »Ja, ich sehe den Abgrund, aber ich bin zu beschäftigt, um mich vor ihm zu fürchten«, sagt Succow. Außerdem habe er einen Rucksack, der ihn erdet. Darin sind Mutter Käthe, Vater Wilhelm, die Schafe, Schäfer Johann, die hochzeitenden Trappen und alle Vögel und Blumen seiner Kindheit. »Der Rucksack ist leicht, obwohl so viel drin ist. Erstaunlich.«