nd-aktuell.de / 20.04.2016 / Berlin / Seite 12

»Ernährung ist nicht gleich Landwirtschaft«

Regionale Akteure organisieren gemeinsamen Rat

Ralf Hutter
Am 7. März wurde der erste deutsche Ernährungsrat in Köln gegründet. Heute ist es auch in Berlin soweit. Der Sprecherrat soll gewählt werden, der Hamburger Gastrosoph und Philosophie-Dozent Harald Lemke hält einen Vortrag, und eine Podiumsdiskussion bittet regionale ernährungspolitische Akteure auf die Bühne. Mit der Mitorganisatorin Christine Pohl sprach Ralf Hutter für »nd« darüber, warum die Hauptstadtregion einen Ernährungsrat bekommt und welche Vorläufer es in anderen Ländern gibt.
Wer gründet den Ernährungsrat, und was soll der dann tun?

Das ist ein breites Bündnis aus regionalen Akteuren aus dem Bereich Ernährung: Erzeuger aus dem Umland, Stadtgärtner, Lebensmittelhändler, Lebensmittelhandwerk, Gastronomie, Wissenschaftler, Vertreter von Verbänden und Vereinen, Bildungseinrichtungen. Auch Verbraucher gehören dazu. Ziel ist, den zukunftsfähigen Wandel des Systems voranzutreiben. Der Ernährungsrat soll als Plattform dienen, wo gemeinsame Ziele, Strategien, Forderungen und Aktionen entwickelt werden.

Warum ist so etwas notwendig?

Weil es bisher auf kommunaler Ebene kaum eine Beschäftigung mit dem Thema Ernährung gibt. Es herrscht im Grunde die Annahme vor: Ernährung gleich Landwirtschaft. Die Verantwortung für Landwirtschaft wurde aber von Berlin per Staatsvertrag an Brandenburg ausgelagert. Es gibt zwar in mehreren Senatsverwaltungen Verantwortlichkeiten im Bereich Ernährung, aber niemanden, der für das Thema als Ganzes zuständig ist. Das muss ganzheitlich angegangen werden.

Wieso ganzheitlich?

Unser Ernährungssystem schadet sowohl weltweit als auch hier in der Region Menschen, Tieren und der restlichen Umwelt. Es führt zu Ausbeutung und der Verletzung von Menschenrechten. Auch in der Region können Erzeuger kaum existenzsichernde Einkommen erzielen. In Berlin gibt es zwar eine hohe Nachfrage nach regionalen und ökologischen Produkten, Brandenburg ist aber industriell geprägt. Da ist auch viel für den Export vorgesehen. Kleine Erzeuger, die für die Region produzieren wollen, können nur schwer Fuß fassen, unter anderem weil die Bodenpreise so hoch sind.

Ein Jahr dauerte der Vorbereitungsprozess für den Ernährungsrat. Hat sich der Senat beteiligt?

Es gab Gespräche. Die Verbraucherschutz-Staatssekretärin Sabine Toepfer-Kataw setzt sich dafür ein, das Ernährungssystem als ein Ganzes zu betrachten. Sie hat angeregt, ein Forum für gutes Essen zu gründen. Dort sollen Politik, Industrie und Zivilgesellschaft zusammenkommen. Das läuft aber eher schleppend. Wir werden da als die Stimme der Zivilgesellschaft angesehen. Beide Gremien unterstützen sich gegenseitig ideell. Frau Toepfer-Kataw hat auch im Oktober den Mailand-Pakt für Städtische Nahrungsmittelpolitik unterzeichnet, in dem Berlin sich zur Schaffung eines nachhaltigen und gerechten Ernährungssystems verpflichtet hat.

Was ist das für ein Pakt? Wer hat ihn unterzeichnet?

Den haben 120 Städte aus aller Welt unterzeichnet, sowohl aus Industrieländern als auch aus Entwicklungs- und Schwellenländern. In Deutschland waren das nur Frankfurt, Köln und Berlin. Der Pakt ist relativ kurz und hat einen nicht verpflichtenden Anhang, der sehr detaillierte und zum Teil sehr gute Vorschläge für das Ernährungssystems macht.

In anderen Ländern gibt es schon seit langem Ernährungsräte. Wann und wie kam es dazu?

Als Erster gilt der von Knoxville, USA, der 1982 eingerichtet wurde, weil es dort engagierte Menschen gab, die ihr lokales Ernährungssystem ungerecht fanden. Es ging vor allem darum, dass es in ganzen Stadtteilen keine Einkaufsmöglichkeit oder kein gesundes Essen mehr gab. Es gibt nun weit über 100 Ernährungsräte in den USA, Kanada und Großbritannien. Sie haben sehr unterschiedliche, weil lokale Schwerpunkte. Das zeigt, dass der große politische Rahmen auf Landes-, Bundes- oder gar EU-Ebene lokalen oder regionalen Problemen nicht gerecht werden kann. Manche Ernährungsräte bemühen sich um eine gute Stadt-Land-Beziehung, um regionale Erzeuger, andere kümmern sich eher um den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit innerhalb der Stadt, und wieder andere berücksichtigen stärker Umweltbelange. Viele sind rein zivilgesellschaftlich, also unabhängig und unbürokratisch, so wie wir – andere sind als Beiräte der Verwaltungen eingerichtet, was zu Einschränkungen führen kann, aber auch zu ganz anderen Möglichkeiten. Und es gibt Mischformen.

Am Freitag sollen »SprecherInnen« gewählt werden. Was ist deren Aufgabe?

Der SprecherInnen-Kreis soll den Ernährungsrat inhaltlich lenken und nach außen repräsentieren. Wir werden in einer offenen Wahl acht bis vierzehn Menschen aus allen erwähnten Bereichen wählen und wollen die größtmögliche Expertise zusammenbringen.