nd-aktuell.de / 25.11.2006 / Kultur

Wozu dienten diese Tücher?

So wird's in Zukunft: Archäologen grübeln im Jahr 2306 über den Alltag in Stalinstadt

Tom Mustroph
November 2306. »Mythos geknackt. Ein Fund von der Bedeutung Trojas.« Die Schlagzeilen der Weltpresse waren überschwänglich. Lange nicht hatte eine archäologische Entdeckung so viel Aufmerksamkeit. Ein Grabungsteam in der durch genetische Experimente an Pflanzen seit 200 Jahren verseuchten Zone am westlichen Rand des eurasischen Kontinents war auf Überreste einer Siedlung hauptsächlich junger Menschen gestoßen. »Wir haben den Jungbrunnen der Menschheit gefunden«, jubelte Grabungsleiter Vlado Ostrowski. Die Gesellschaft im 24. Jahrhundert war wegen der Fortschritte der Medizin dramatisch überaltert. Doch stets hatte sich der Mythos von einer jungen Gemeinschaft erhalten. Von Stahlstadt, Eisenstadt, auch Stalinhüttenstadt war in der Überlieferung die Rede. »Jetzt haben wir den Beweis«, sagte der Grabungsleiter und hielt ein verrostetes Schild mit der Aufschrift »Eisenhüttenstadt« in die Kamera. »Unsere Analysen der Knochenfunde und Dokumente haben ergeben, dass die Einwohner dieser Stadt meist jünger als 40 Jahre waren. Die Infrastruktur von Kindergärten und Schulen war überdurchschnittlich, Friedhöfe hingegen wurden erst in späterer Zeit angelegt und waren für die Dimension der Stadt vergleichsweise klein.« Besonders stolz war Ostrowski, dass es ihm gelungen war, das Geheimnis der jugendlichen Gemeinschaft zu lüften. »Es handelte sich um einen speziellen Kult«, sagte er. »Wir haben Überreste von blauen und weißen Hemden sowie Halstüchern gefunden. Diese zeremoniellen Kleidungsstücke wurden nur bei speziellen Verrichtungen getragen.« Zwar erhob sich Kritik an dieser Interpretation. Ostrowskis Stellvertreter beispielsweise meinte: »Von Kult reden wir Archäologen immer dann, wenn wir absolut hilflos sind und uns eine einleuchtende Erklärung für die Funde fehlt. Ich gehe davon aus, das es sich um Schutzkleidung in einer extrem gefährlichen Produktionsstätte gehandelt hat. Die sogenannten Halstücher waren vermutlich ein Atemschutz.« Doch konnte sich seine Auffassung nicht durchsetzen. Zu groß ist im 24. Jahrhundert das Bedürfnis, das imaginäre Bild einer jungen Gründergesellschaft mit Fakten untermauert zu sehen. Zu den Gründen des Untergangs dieser Gesellschaft äußerte sich Ostrowski nur vage. »Vermutlich übermächtige Gerontokraten«, murmelte er.