Die tränenden Bäume von Dau Tieng

Jeden Morgen um fünf Uhr beginnt die Arbeit auf Vietnams größter Kautschukplantage Frauen zapfen den für die globale Mobilität bis heute unentbehrlichen Saft Immer mehr vietnamesische Bauern pflanzen inzwischen Kautschukbäume auf ihrem Land

Die Milch von 100 Hektar fließt hier zusammen. An der Sammel- und Wiegestelle Nr. 11 von So Do Quan Ly Tram So, irgendwo in der riesigen Plantage der Dau Tieng Rubber Corporation (DRC), klappert und spritzt es zu allen Seiten, wenn der Tankwagen am frühen Vormittag vorgefahren ist. Etwa 50 Arbeiterinnen in blauen Anzügen hieven ihre vollen Eimer und Kannen hoch, um frisch geerntete Latexmilch in den Tank zu gießen. Eine schweißtreibende Arbeit, bei der das Konzert schnatternder Frauenstimmen immer lauter wird, je mehr der Tank sich füllt.
Nach einer Viertelstunde ist alles vorbei. Plötzlich kehrt wieder Ruhe in den Kautschukforst ein. Belarus-Traktoren tuckern mit vollen Tanks zur nächsten Fabrik, wo die Latexmilch in langen Becken gerinnt und zu festen Kautschukblöcken weiterverarbeitet wird.

303 Stämme in der Obhut von Frau Chi
Nachdem die Frauen ihre leeren Eimer mit Wasser ausgewaschen haben, schwingen sie sich auf ihre Fahrräder und Mopeds und zerstreuen sich in alle Himmelsrichtungen des symmetrischen Wegenetzes. Wer an der Sammelstelle zurückbleibt, der vernimmt keine Stimme mehr, hört keinen aufheulenden Motor mehr, kein Vogel zwitschert. Es herrscht Stille, und die Sonne wirft streifiges Licht durch die schier unendlichen Reihen gleichförmiger Bäume, die Quellen des Naturkautschuks.
»Das ist mein Leben.« Die Zapferin Le Thi Kim Chi sagt dies mit pragmatischer Zufriedenheit. Seit 22 Jahren arbeitet sie im Kautschukforst. Seit 22 Jahren steht sie frühmorgens auf, um die Rinde der »tränenden Bäume« anzuritzen. Die Mutter von drei Kindern wohnt mit ihrem Mann, der auch bei der DRC beschäftigt ist, im Dorf Thanh Tan. Mit dem Fahrrad fährt sie von ihrem Haus zu »ihren« Bäumen, die alle eine laufende Nummer haben. 303 Bäume stehen unter der erfahrenen Obhut von Frau Chi, die wie alle Arbeiterinnen nach Leistung bezahlt wird.
Wichtig ist der behutsame Umgang mit dem Baum. Wer ihn gut behandelt, der kann nach Aussage von Frau Chi von 300 Bäumen rund 1,2 Tonnen Trockenkautschuk jährlich ernten. Dabei variiert der Wassergehalt in der Latexmilch mit den Jahreszeiten. In der Trockenzeit enthält sie weniger Wasser als in der Regenzeit. Der Arbeitsablauf für Chi und ihre Kolleginnen ist jedoch fast immer der gleiche.
Morgens um fünf Uhr beginnt das Anritzen der Rinde und das Leeren der so genannten Cups, kleiner kegelförmiger Plastikbehälter, die am unteren Ende der Ritze am Stamm hängen. Ungefähr in einem Meter Höhe wird angeritzt. Auf der Plantage von Dau Tieng zweifach, einmal von links oben nach rechts unten und einmal von links unten nach rechts oben. Zwei Messer benutzen die Zapfer: das langstielige dao tuc fürs grobe Anritzen und das dao keo mit dem kurzen Griff für den »Feinschliff«.
»Ungefähr nach einem Jahr im Forst hat man die Fähigkeit, den Baum richtig zu behandeln«, sagt die 46-Jährige, die nach drei Stunden routinierter Arbeit eine kleine Pause einlegt. Sie setzt sich in eine Hängematte, die sie und ihre Arbeitskollegin Rinh zwischen zwei Bäume gespannt haben. Mehrere Räucherstäbchen sind in den tropischen Boden gesteckt und glimmen vor sich hin. Der stark parfümierte Rauch liegt schwer in der Luft und soll Moskitos vertreiben, die hier eine echte Plage sind. Während früher, zu Zeiten der französischen Kolonialherrschaft und auch noch während folgenden Krieges, viele Arbeiter der Malaria zum Opfer fielen, ist die Gefahr der Erkrankung aufgrund besserer ärztlicher Versorgung jetzt geringer geworden.
Fast 30 000 Hektar groß ist die Plantage nordwestlich von Ho-Chi- Minh-Stadt, der quirligen Metropole im Süden Vietnams. Die Plantage wurde im Auftrag des französischen Michelin-Konzerns im Kolonialjahr 1917 mitten in den tropischen Urwald gepflanzt. Sie ist die größte in ganz Vietnam und gehört zu den erfolgreichsten im Land.

Die Nachfrage ist ungebrochen groß
Vietnam schließt mit einer Produktion von 400 000 Tonnen (2004) Naturkautschuk peu à peu zu Indonesien, Thailand und Malaysia auf. Und die Ziele der vietnamesischen Akteure sind ehrgeizig. Bis 2020 soll das Land, das Ökonomen wegen seiner hohen Wachstumsraten als »neuen Tiger« unter den südostasiatischen Staaten bezeichnen, seine jährliche Kautschukproduktion auf gut eine Million Tonnen steigern. So zumindest lautet die Forderung im Landwirtschaftsministerium in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi. Über die Vietnam General Rubber Corporation (Geruco), die als Dachorganisation der staatlichen Plantagenbetriebe noch über rund 70 Prozent der gesamten vietnamesischen Produktion wacht, nimmt die Regierung Einfluss auf das Geschehen im Kautschukforst. So bewirtschaften die Geruco-Unternehmen rund 220 000 Hektar Kautschukplantagen. Unabhängig von den staatlichen Planungen rechnen Experten bis zum Jahre 2010 mit jährlichen Wachstumsraten von acht bis zehn Prozent. Schon bis Ende dieses Jahrzehnts wird die Produktion demnach auf ungefähr 700 000 Tonnen geschraubt. Da auch viele Kleinbauern auf den Kautschukanbau setzen, weil sie damit mehr Geld verdienen können als mit Reis, Früchten oder anderen Agrarpflanzen, ist in den nächsten Jahren auch im Privatsektor rasches Wachstum zu erwarten.
Derzeit gehen rund 80 Prozent der landesweiten Produktion an Käufer aus dem Ausland. China mit seinem ungesättigten Mobilitätshunger schluckt allein über 40 Prozent, die USA und Deutschland haben im letzten Jahr ungefähr je zehn Prozent des vietnamesischen Kautschuks gekauft. Und wenn die vietnamesischen Lieferanten ihr Preisniveau in den nächsten Jahren halten, können sie ihre Ware bei gleicher Qualität zu einem niedrigeren Preis als ihre Konkurrenz in anderen Staaten Südostasiens anbieten.
Die Nachfrage ist weltweit ungebrochen groß und steigend - obwohl Synthesekautschuk in vielen Bereichen den Naturkautschuk ersetzt hat. Doch Naturkautschuk ist aufgrund seiner einmaligen Eigenschaften beispielsweise aus der Reifenbranche nicht wegzudenken: für Flugzeuge, Lastkraftwagen, Automobile. Die Zulassungszahlen steigen weiter, in den USA genauso wie in China und Indien. Daher sind die Aussichten, egal wie umweltfreundlich der Antrieb gestaltet sein mag, für diejenigen, die auf den Kautschukplantagen den »Saft der Mobilität« zapfen, weiterhin günstig.
Wenngleich der Kautschukforst wahrlich kein Paradies ist. Es ist eine arbeitsintensive Monokultur, in der nur wenig andere Pflanzen und Tiere existieren. Wo früher artenreiche Wälder wuchsen, ragen heute nur Kautschukbäume empor. Und wo heute noch landwirtschaftliche Flächen sind, wächst morgen schon das nächste Stück Forst - ob im Namen der globalen Mobilität oder des Schutzes gegen AIDS in Form von Latex-Kondomen.

Thoa setzt die Tradition fort
Viele vietnamesische Bauern setzen in ihre jungen Naturkautschuk-Bäumchen große Hoffnungen. Sie investieren allerdings in eine Kultur, die ihr Betriebskapital langfristig bindet. Denn erst nach dem siebten Jahr kann mit der Ernte begonnen werden. Trotzdem gehen viele Familien dieses Risiko ein, weil sie hoffen, mit den Einnahmen aus dem Verkauf der Latexmilch ihre Existenz zu sichern.
Auch auf der Plantage Dau Tieng sieht man optimistisch in die Zukunft. Mehr als 2000 Hektar Forst mit alten Kautschukbäumen sind gerodet worden und machen Platz für Neuanpflanzungen. Das anfallende Holz findet Abnehmer in der Papier-, Möbel- und Bauindustrie. Die Plantagenbetreiber erwirtschaften mit dem Holzverkauf mittlerweile rund 15 Prozent ihrer Erlöse.
In einigen Jahren wird Frau Chi ihre Ritzmesser für immer beiseite legen. Im Alter von 55 Jahren erhält sie wie alle Arbeiterinnen in Vietnam eine bescheidene Rente, und ihre Tochter Thoa wird die Zapfertradition der Familie fortsetzen. Bis dahin ist es aber noch ein Weile hin. Und so wird Frau Chi noch so manche Tonne Latexmilch zur Sammelstelle No. 11 bringen. Allein ihre Ernte reicht aus, um viele Hunderte T...

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