Das Gruseln lehren

Zur Seele: Erkundung mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 5 Min.
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München.
In dem Märchen der Brüder Grimm von dem Mann, der auszog, das Gruseln zu lernen, finden wir die schönste Darstellung eines Phänomens, das die Psychologen »Angstlust« nennen. Die meisten Menschen empfinden es als Zumutung, zur Geisterstunde über einen Friedhof zu laufen oder im Vertrauen darauf, dass Gummiseile sie an den Fussknöcheln halten, in einen Abgrund zu springen. Aber es gibt eine qualifizierte Minderheit, welche solche Erlebnisse »toll« findet. Diese Minderheit wächst parallel zum Wohlstand und der Sicherheit eines befriedeten Lebens, mit ihr auch die Faszination durch das Gruseln, nach dem sich der Held des Märchens sehnt. Den Boden unter den Füßen aufzugeben, sich ins Bodenlose zu stürzen, den Tod vor sich zu fühlen, ihn aber gleichzeitig rational ausschließen zu können, ist keine Perversion. Hier wird eine Lust formuliert, die schon kleine Kinder kennen, welche nicht mehr von der Schaukel herunter wollen. Auch diese wirft sie doch in raschem Wechsel ins Bodenlose und hält sie zurück, was ein wohliges Kribbeln in den Unterleib jagt. Solche Empfindungen werden gesteigert und mit hohem technischen Aufwand befriedigt, wenn Ingenieure eine neue Achterbahn konstruieren. Diese soll mehr Angst bieten, aber nicht weniger Sicherheit als die alte. Sie schleudert kreischende Insassen in Höhen und Abgründe, bringt sie dazu, vor Schreck zu kotzen und zu pissen. Sie zahlen willig für diese Leiden; das Glücksgefühl setzt ein, wenn der Event überstanden ist. Freud hat in seinem Text über das Unbehagen in der Kultur die technischen Erleichterungen unseres Lebens mit jenem »billigen Vergnügen« verglichen, das man sich verschafft, »indem man in kalter Winternacht ein Bein nackt aus der Decke herausstreckt und es dann wieder einzieht.« Der Bungee-Sprung passt in dieses Muster, er ist allerdings - anders als das billige Vergnügen - nicht umsonst. Der Kunde springt, ohne genau zu wissen, warum er das gerade in diesem Augenblick tut - er will es einfach hinter sich haben. Er fürchtet anfangs, dass die Gummiseile nicht funktionieren, die seinen Sturz dämpfen und auffangen sollen. Sobald sie greifen und er weiß, dass er überleben wird, macht sich das Glücksgefühl breit. Das Ganze wird als Erweiterung menschlicher Potenziale gerühmt. Das könnte auch jemand sagen, der uns Kokain verkauft, und wir könnten antworten, dass der Gewinn für unsere Psyche zweifelhaft, der für sein Bankkonto jedoch eindeutig sei. Tatsächlich haben »legale« und »illegale« Risikoaktivitäten viel gemeinsam: Bungeespringen und Kokainschnupfen, die schwarze Piste fahren und in der Disco Ekstasy einwerfen. Aus diesem Grund ist es auch der Bevölkerung schwer vermittelbar, dass die eine Variante eines möglicherweise gesundheitsschädlichen Nervenkitzels von den Gesetzen toleriert, die andere aber kriminalisiert wird. Unter den Szenen in Grimms Grusel-Märchen ist mir eine in Erinnerung geblieben, in der sich der Held mit Schnitzmesser und Drechselbank in einem Gespensterschloss einschließen lässt. Es kommen grauenhafte Geister, die mit Totenschädeln und -gebeinen Kegel schieben wollen. Sie fordern den Menschen in drohendem Ton auf, mitzutun. Dieser spannt unbeirrt die Totenschädel in seine Drehbank, drechselt sie schön rund und sagt, dass sie jetzt doch besser schüppeln. So muss sich der Spuk geschlagen geben - dem Angstlosen ist nicht beizukommen. Eine Mutter stellte mir in den achziger Jahren ihren Sohn vor: ob etwas mit dem Zehnjährigen nicht in Ordnung sei? Dieser habe auf einem Dorffriedhof Knochen gefunden und sie mit nach Hause genommen, um sie in sein Spiel mit den Figuren von He-Man und Skeletor einzubauen. Diese beiden waren die Helden einer damals beliebten, sowohl für Plastikspielzeug wie für Zeichentrickfilme und Computerspiele verwendeten Ereigniswelt. Muskulöse Männer, böse Feinde, schöne Frauen, Magie, Zauberwaffen. Skeletors Schloss Castle Grayscull ist wie ein Totenkopf gestaltet; der böse Held selbst trägt (ähnlich dem bösen Imperator in »Mortal Combat«) einen Totenschädel über muskulösem Oberkörper. Wer als Schulkind Skeletor in Plastikausführung handhabte, soll einen echten Totenschädel finden und nicht mit ihm spielen? Angesichts der Bundeswehrsoldaten, die mit Schädeln und Knochen posieren, verwundert mich eher die Aufregung der Medien als die Aktion selbst. So viel Empörung über ein winziges, widerwärtig-harmloses Detail angesichts der massiven, umfassenden Grausamkeit des Krieges, in dem jeden Tag Menschen sterben? Im Kampf gegen den Terror ist der Tod ebenso unfassbar wie allgegenwärtig. Die europäischen Soldaten haben kaum Möglichkeiten, ihr Selbstbewusstsein so zu entwickeln, wie das Soldaten seit Jahrhunderten tun: indem sie kämpfen und siegen. Gesunde, kräftige junge Männer sind monatelang damit beschäftigt, sich zurückzuhalten, Zivilisten zu kontrollieren, die guten Bürger vor den bösen zu schützen, wobei sie keine Ahnung haben, wer jetzt welcher Seite zuzuordnen ist. Sie sammeln vor allem Erlebnisse des Versagens: Wenn nichts passiert, sind sie überflüssig und kosten nur Geld; wenn sie die Attentate nicht verhindern können - warum sind sie überhaupt da? Da mag es ein makaberer Trost sein, endlich des Todes habhaft zu werden, der sonst doch nur ungreifbar und unauffindbar in der Menge schutzbedürftiger Zivilisten steckt, endlich beweisen zu können, dass sich ein deutscher Panzersoldat vor nichts fürchtet und kein Grausen, kein Gruseln kennt. In den Medien wurden »pädagogische Defizite« beklagt. Freilich ist eine gewisse Unsicherheit darüber entstanden, wo diese liegen: bei den Soldaten, die in einer Kiesgrube mit dem Gruseln gespielt haben, oder bei der Bildzeitung, die Fotos dieser Taten einem breiten Publikum erschliesst. Jedenfalls hat der Chef der kleinen, orginellen Ökologisch-Demokratischen Partei in Bayern, Bernhard Suttner, die Bildzeitung angezeigt, denn »die Verbreitung der Bilder potenziert die Schädigung des allgemeinen Achtungsanspruchs der Toten«.
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