Stille Urne

Am Totensonntag ist Gelegenheit, auch an jene Verstorbenen zu denken, die auf Staatskosten bestattet werden

  • Sebastian Krüger
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
Erde knirscht unter den Sohlen, von kahlen Bäumen tropft es. Auf dem evangelischen Friedhof in Berlin Karlshorst herrscht an diesem Morgen Novemberwetter, wie es im Buche steht: dunkel, nasskalt, melancholisch. »Heute haben wir eine stille Urne, eine Sozialbestattung«, sagt Friedhofsverwalter Bernd Thürling. Aus dem Geräteschuppen holt er einen Erdbohrer, eine Schaufel und ein grünes Grabtuch und macht sich damit auf den Weg in die hinterste Ecke des Friedhofs. Thürling verwaltet sechs evangelische Gottesäcker in Friedrichsfelde und Karlshorst, auf denen pro Jahr insgesamt 600 Beerdigungen stattfinden. Etwa 50 davon sind Sozialbestattungen, die meistens als anonyme Urnenbeisetzungen durchgeführt werden. In der Regel nimmt er die selbst vor. Vor einem kleinen Wiesenstück bleibt Thürling stehen. Nur an einer Steinurne, die in der Mitte auf einem Sockel steht, ist zu erkennen, dass dies keine normale Wiese ist, sondern ein modernes Massengrab, in dem über 300 Urnen beigesetzt wurden. Darunter sind nicht nur die Urnen jener, die sich diese Form der Bestattung schon zu Lebzeiten wünschten, sondern auch die, die sich nichts anderes leisten konnten. Wo die nächste Urne hinkommen soll, zeigt eine grüne Markierung. Thürling setzt den Erdbohrer an und schraubt ihn schnell in den weichen Boden hinein, bis zur vorgeschriebenen Tiefe von 80 Zentimetern. Über das ausgehobene fußbreite Loch legt er das Grabtuch, das eine mittige Öffnung hat. Friedhofsarbeiter in grünen Latzhosen harken nasses Laub zusammen. »Vorbereitung für Totensonntag«, erklärt Thürling, »da kommen viele Leute her, und alles soll aufgeräumt sein.« Der Totensonntag geht auf den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. zurück, der 1816 den Sonntag vor dem 1. Advent zum »allgemeinen Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen« bestimmte - bald setzte sich der Gedenktag in ganz Deutschland durch, auch weil er sich so gut in den kirchlichen Festkalender fügt: Bevor mit dem Weihnachtsfest und der ihm vorausgehenden Adventszeit das neue Kirchenjahr anbricht, wird an seinem Ende der Toten gedacht. Berlin hat 186 Friedhöfe, 103 davon sind evangelisch, 67 gehören dem Land, der Rest wird von katholischen, muslimischen, jüdischen und anderen Gemeinden betrieben. Obwohl sie sich meist in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Lebenden befinden, spielen sie in deren Alltag als Orte des Innehaltens und der Erholung nur eine untergeordnete Rolle. Am Totensonntag ist das anders: Dann besuchen viele Menschen die Gräber ihrer verstorbenen Angehörigen, legen Blumen und Kränze nieder und zünden Kerzen an. »Doch die Lebendigkeit, die für diesen einen Tag auf den Friedhöfen einzieht, täuscht nicht darüber hinweg, dass es um unsere Trauer- und Bestattungskultur schlecht bestellt ist«, sagt Axel Kluth, Sprecher der Bestatterinnung Berlin-Brandenburg. Die Verdrängung des Todes und des Bewusstseins für die Endlichkeit des Lebens aus der öffentlichen Wahrnehmung sei dabei nur ein Grund von vielen. Ein anderer Grund: das liebe Geld. Immer mehr Menschen können die Kosten für die Beerdigung ihrer nächsten Angehörigen nicht bezahlen. Laut Bestattungsgesetz sind Verwandte ersten und zweites Grades »bestattungspflichtig«, es sei denn, sie sind selbst bedürftig - dann springt das Sozialamt ein. Doch weil Berlin sparen muss, spart es auch bei den Toten. Im letzten Jahr »belasteten« sie den Landeshaushalt mit immerhin 2,3 Millionen Euro. Anfang 2004 wurde das Sterbegeld als besondere Leistung der Krankenkassen gestrichen, das waren immerhin 525 Euro. »Seitdem nehmen die Sozialbestattungen stark zu«, sagt Axel Kluth, der selbst auch Bestattungsunternehmer ist. »Wir verzeichnen einen Anstieg von 100 Prozent innerhalb der letzten zwei Jahre.« Bundesweit wird die Zahl der Sozialbestattungen auf 33 000 geschätzt, im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg waren es in den letzten zwölf Monaten 347. In einem Rahmenvertrag hat der Berliner Senat günstige Preisabsprachen mit der Bestatterinnung getroffen. Darin ist bis auf den Cent geregelt, wie viel eine Sozialbestattung kosten darf. Der Blumenschmuck zum Beispiel exakt 51,12 Euro, die Aufbahrung in der Friedhofskapelle 122,71 Euro. Ein Sarg darf nicht teurer sein als 238,43 Euro: Das ist der Preis für ein schmuckloses, mit Papier ausgeschlagenes Kiefernmodell. Hinzu kommen die Friedhofsgebühren, die auf evangelischen Friedhöfen etwas niedriger sind als auf landeseigenen. Die Folge: Hat ein Verstorbener kein Vermögen hinterlassen und ließen sich keine Angehörigen ermitteln, ordnet das Sozialamt eine »ordnungsbehördliche Bestattung« an. Das heißt: eine anonyme Feuerbestattung auf dem nächstgelegenen evangelischen Friedhof - so wie sie heute auf dem Karlshorster Friedhof stattfindet. Vor dem Friedhofstor hält ein Leichenwagen. Ein Bestatter, er kommt direkt vom Krematorium Baumschulenweg, bringt die Asche eines Anfang der Woche »alleinstehend Verstorbenen«. Seine Asche befindet sich in einer schwarzen Kapsel in Form einer kleinen Vase - im Etat einer Sozialbestattung ist die Verwendung einer Überurne, auch Schmuckurne genannt, nicht vorgesehen. Thürling übernimmt das Gefäß und trägt es in die kalte, leere Friedhofskapelle, wo er es für »eine Stunde unters Kreuz stellt«. »Das muss ich nicht tun«, sagt Thürling, »denn bezahlt wird es nicht. Aber es gehört sich so, finde ich, dies ist schließlich ein evangelischer Friedhof.« Aschekapsel, weder Blumen noch Feier. Ein Holzkreuz nur in zu begründenden Einzelfällen, von einem Grabstein ganz zu schweigen - bei Sozialbestattungen werden nur die elementarsten Leistungen erbracht. Peter Storck, Pfarrer der Kreuzberger Gemeinde Heilig Kreuz-Passion, nennt das »Sozialverscharre«. »Zur Würde des Menschen gehört auch seine würdige Bestattung«, sagt Storck, »das gilt für eine einsame alte Frau, die man tot in ihrer Wohnung findet, ebenso wie für einen alkoholkranken Obdachlosen, der in einer Notunterkunft stirbt.« Storcks Gemeinde engagiert sich seit Jahren stark in der Obdachlosenhilfe, sie betreibt ein Netz aus Wohn-, Hilfs- und Betreuungsprojekten. »Obdachlose werden meist billig entsorgt, da sie oft keinen Kontakt mehr haben zu ihren bestattungspflichtigen Angehörigen«, sagt Storck. Eine Möglichkeit sei, allein lebende Mitmenschen im Auge zu behalten und im Sterbefall zu helfen, ihre Wünsche gegenüber den Ämtern zur Geltung zu bringen. Vor vier Jahren richtete Storcks Gemeinde auf dem Friedhof »Vor dem Halleschen Tor« ein »Grab mit vielen Namen« ein. Dort werden jene Obdachlosen beigesetzt, mit denen die Gemeinde über ihre vielen Projekte in Kontakt stand. Mittlerweile stehen auf der großen Marmortafel zehn Namen. »Viele von ihnen waren Zeit ihres Lebens für Ämter und Behörden nur eine Nummer, jetzt, im Tod, haben sie ihre Namen zurückerhalten«, sagt Storck. Die »Stunde unterm Kreuz« ist um. Bernd Thürling hat unterdessen Telefonate geführt, Verwaltungsarbeit gemacht. Jetzt geht er hinüber zur Kapelle, es ist nicht kalt, aber die Luft riecht nach Regen. In der Kapelle bleibt er einen Augenblick stehen, dann nimmt er die Urne und trägt sie langsam hinaus zu dem Urnenfeld, auf dem er heute morgen das Loch aushob. Er senkt die Urne in das Loch hinab, spricht still ein Gebet und nimmt das Grabtuch weg. Er schaufelt das Loch zu und drückt den grünen Stift links daneben in die Erde. Dort wi...

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