nd-aktuell.de / 13.05.2016 / Kultur

Schrieb Siegfried Lenz zu sowjetfreundlich?

Offene Fragen zum posthum veröffentlichten Roman »Der Überläufer« / Erste Fassung 1951 von früherem SS-Mitglied abgelehnt

Im 65 Jahre später veröffentlichten Roman fehlt ein entscheidender Hinweis: In der ersten Fassung, wegen »handwerkliche und technischer« Schwächen abgelehnt, wird die Rote Armee deutlich freundlicher beschrieben.

Im März 2016 kam der Roman von Siegfried Lenz »Der Überläufer« auf den Buchmarkt – 65 Jahre nach seiner Entstehung und 1,5 Jahre nach dem Tod des Autors. In dem Frühwerk von Lenz geht es um den Wehrmachtssoldaten Walter Proska, der gegen Ende des Krieges desertiert und zur Roten Armee überläuft. Die Veröffentlichung des Romans war seinerzeit vom Verlag Hoffmann und Campe abgelehnt worden. Lektor Otto Görner, ein früheres Mitglied der SS, hatte zunächst auf »handwerkliche und technische« Schwächen hingewiesen, später die negative Darstellung von Wehrmachtssoldaten kritisiert.

Hofmann und Campe veröffentlichten jetzt die zweite, von Lenz auf Druck von Görner überarbeite Fassung. Im Deutschen Literatur- und Handschriften-Archiv in Marbach befindet sich jedoch im bislang noch völlig ungeordneten Nachlass von Siegfried Lenz die erste Fassung des »Überläufer«. Aus dieser geht hervor, dass die Hauptfigur des Romans sich völlig freiwillig und aus eigener Überzeugung und Initiative zum Kampf gegen Hitler und seine früheren Kameraden (die Lenz an der entscheidenden Stelle »Klicke« nennt) entscheidet und nicht, wie in der zweiten Fassung, einzig und allein aufgrund von Zwang inform einer Exekutionsdrohung durch die Sowjets.

Der gravierende Unterschied zwischen der ersten und zweiten Fassung ist offenbar auch Hoffmann und Campe 2016 nicht aufgefallen: So heißt es in der Zusammenfassung des Verlags zu dem Gefangenschaftskapitel, die beiden Überläufer hätten »ihrer für den nächsten Morgen angesetzten Exekution« entgegengesehen und Lenz habe seine Hauptfigur in jenen »Ausnahmezustand« versetzt, »in dem ihm nur noch die Wahl bleibt zwischen Untergang und Verrat, als Alternative zum sicheren Tod nur noch die Möglichkeit, den Kampf gegen «die Klicke» auf Seiten des früheren Feindes aufzunehmen.« Im ersten Manuskript benennt Lenz jedoch ganz andere Beweggründe: Die beiden Überläufer hätten sich »freiwillig gemeldet (…) Sie hatten durch ihre Unterschrift nichts weniger getan, als geschworen und versprochen, dass sie bereit seien, Front und Pferd zu wechseln, und ihre Kräfte der Freiheit widmen würden bis zum letzten Atemzug. Nun – so glaubte Proska ehrlich – werde er Gelegenheit finden, der 'Klicke' ein baldiges Ende zu bereiten und dafür zu sorgen, dass die Kameraden schneller nach Hause gehen können.« nd

Die ganze Geschichte lesen sie im Wochen-nd am 14. Mai