nd-aktuell.de / 19.05.2016 / Kultur / Seite 17

In der Ferne

Fritz Stern gestorben

Karlen Vesper

Es ist eine eigene Sache mit dem Patriotismus, mit der wirklichen Vaterlandsliebe. Man kann sein Vaterland lieben, und achtzig Jahre dabei alt werden, und es nie gewusst haben; aber man muß dann auch zu Hause geblieben sein. Das Wesen des Frühlings erkennt man erst im Winter, und hinter dem Ofen dichtet man die besten Mailieder. Die Freiheitsliebe ist eine Kerkerblume und erst im Gefängnis fühlt man den Wert der Freiheit. So beginnt die deutsche Vaterlandsliebe erst an der deutschen Grenze, vornehmlich aber beim Anblick deutschen Unglücks in der Fremde.« Diese Worte von Heinrich Heine zitierte der Historiker Fritz Stern am 10. November 1992 bei einer Gedächtnisfeier für Willy Brandt in der Kapelle der Vereinten Nationen in New York. Als am Schluss der Feier die Orgel die »Internationale« spielte, schossen ihm nach eigenem Bekunden beinahe die Tränen in die Augen.

Vaterlandsliebe ist dem am 2. Februar 1926 in Breslau geborenen Sohn eines Arztes und einer Physikerin jüdischer Abstammung schon in der Kindheit von deutschen Radau-»Patrioten« ausgetrieben worden - und hat ihn doch ein Leben lang nicht losgelassen. Die Familie floh 1938 in die USA, wo Fritz Stern an der Columbia University von New York studierte und promovierte, an der er bis zu seiner Emeritierung als Professor lehrte. Sein Forschungsinteresse galt dem 19. und 20. Jahrhundert, vor allem dem der Deutschen. Er folgte nicht der irrigen Annahme, dass einige große Männer die Geschichte machen, doch waren ihm namhafte Akteure dienstbar, um Geschichte lebendig zu beschreiben und zu erklären, wie etwa seine Bücher zu »Bethmann Hollweg und der Krieg« oder »Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder« bezeugen. Neben Heine gehörten zu den ihn besonders faszinierenden historischen Persönlichkeiten Albert Einstein, der sein Vaterland zeitlebens nach seiner Ausbürgerung durch die Nazis nicht mehr betrat, sowie der Chemiker und Nobelpreisträger Fritz Haber, nicht nur, weil jener sein Taufpate war und er dessen Vornamen erhielt, sondern auch ob dessen tiefer Tragik. Vor allem aber fesselten Fritz Stern Menschen, »die sich gegen den bejubelten NS-Staat stellten, die ihren Anstand auf viele Weise aktiv bewiesen, und das in dem Bewusstsein, dass ihnen Folter und Tod drohten«, wie er in seinem letzten Essayband »Zu Hause in der Ferne« notierte (2015).

Fritz Stern war ein Geschichtsschreiber, der sich wagte und verpflichtet fühlte, zeitgenössische Erscheinungen, vor allem unheilvolle, zu kommentieren, zu warnen. In einem Interview fürchtete er jüngst ein »neues Zeitalter der Angst«. Er galt als moralische Instanz, sein Urteil war gefragt. Es passte freilich nicht immer jedem. Als erster Ausländer hielt er 1987 im Bundestag die Festrede zum 17. Juni und durchkreuzte gängige Geschichtsklitterung, sah den »Volksaufstand« in der DDR nicht in einer Wiedervereinigungssehnsucht begründet, sondern in Arbeiterunmut über den Arbeiterstaat.

Fritz Stern verstarb am gestrigen Mittwoch in New York.