Einsam unter den Vielen

Eva Schmidt kann Menschen beobachten und beschreiben - meisterhaft

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Man stellt sich vor, dass das Buch im Heimatort der Autorin - Bregenz - handeln könnte und dass die Personen, die darin auftauchen, der Realität entnommen sind. Ja, man könnte sich sogar denken, dass Eva Schmidt selber im Text vorkommt, getarnt hinter einem »Ich«, von denen nur manche einen Namen haben. Am Anfang Gloria, die meint, sich immer in die falschen Männer zu verlieben oder im nächsten Kapitel Marcel Ritter. 73 Seiten später sehen wir diesen Herrn (der sich als Nichtsnutz entpuppt) in Glorias Wohnung. Aber inzwischen haben wir schon viele andere Leute kennengelernt.

Ein Mann namens Masarek beobachtet vom Hochhausbalkon morgens eine Frau, wie sie in einem Siedlungshaus die Fensterläden öffnet. Eine andere Frau (oder ist es dieselbe?) blickt abends aus ihrem Garten zum Hochhaus hinauf. Wir lernen zwei Jungen kennen, Benjamin und Joachim. Der eine ist allein mit seiner Mutter, der andere mit seinem Vater. Es mag einem beim Lesen zunächst scheinen, als ob man ganz, ganz viele flüchtige Bekanntschaften macht, wobei diese vielen Einzelnen einander beobachten so wie die Autorin sie, doch dass sie einander näher kämen - schwierig, schwierig.

Warum ist das so, überlegte ich beim Lesen, dass auch ich von den Leuten aus meiner Straße so wenig weiß? Sehe den Nachbarn rechts mit dem Fahrrad wegfahren, wundere mich, dass nachts das Licht in seinem Hause brennt. Ob er am Computer sitzt? Was hat er eigentlich für einen Beruf? Ist seine Frau wieder ganz gesund? Und wie schaffen es die Leute von gegenüber überhaupt, ihren Garten so gut in Ordnung zu halten, wo sie doch spät heimkommen und man sie kaum draußen arbeiten sieht?

38 kurze Kapitel hat das Buch - aber man sollte es nicht häppchenweise lesen, weil es dann tatsächlich bei diesen flüchtigen Bekanntschaften bleibt. Ein Personenregister wäre gut gewesen, dachte ich zunächst: Richard Kleber ist Joachims Vater, Cora Pohl Benjamins Mutter, Johanna ist die Freundin von Karin Brandenburg usw. Aber als ich diesen Wunsch hatte, war ich noch von dem klaren Stil dieser Momentaufnahmen getäuscht, hatte noch nicht verstanden, wie raffiniert das Buch eigentlich gebaut ist. Ein Personenregister hätte zerstört, was Eva Schmidt beabsichtigt hat.

Es wäre ihr ja auch ein leichtes gewesen, deutliche Erklärungen einzufügen, wer da mit wem zusammenhängt und was da in der Vergangenheit geschehen ist, aber die Autorin tut es, wenn überhaupt, auf eher beiläufige Weise. Sie wirft uns sozusagen ein Puzzle hin, das wir selber zusammensetzen sollen. Und siehe: Es sind viel weniger Personen als gedacht. Und hinter jeder verbirgt sich eine ganz besondere Lebensgeschichte. Mehrere Romane stecken in diesem gar nicht einmal so dicken Buch. Wenn wir wollen, können sie sich in unseren Köpfen entfalten.

Aber zunächst haben wir eben nur dieses Geflecht von Sichtachsen und zufällig erscheinenden Begegnungen. Dass wir es hier mit einer Meisterin im Beobachten und Beschreiben zu tun haben, merkt man auch, wenn man sich die Struktur des Romans nicht entschlüsseln kann.

»Eva Schmidt erzählt so mitfühlend und bedacht, so teilnehmend und zurückhaltend von den kleinen Dingen des Lebens, als wären sie groß, von den großen, als wären sie klein.« So heißt es im Klappentext, der nicht von ungefähr auf die Geschichte von Benjamin und dem Hund des alten Herrn Agostini verweist, die indes nur ein Puzzlesteinchen im Buch ist. Aber dieser Roman entzieht sich jener Gefälligkeit, die ein großes Publikum zu den Vorabendserien vor den Fernseher bringt.

Apropos Hunde, es kommen mehrere im Buch vor. »Durch Hunde lernt man Menschen kennen«, heißt es auf Seite 205. Ob die Autorin da aus eigener Erfahrung spricht? Hunde können trösten, denn eigentlich sind alle Gestalten, so verschieden sie sind, auf ihre Weise versehrt. Zweige eines Baumes, der aus einer Wurzel kommt?

Beim Lesen weht einen der Wunsch nach Heilung an. Doch für die Wirklichkeit dieses Romans wäre das willkürlich, falsch gewesen. Unter Menschen und dennoch einsam sein - das ist die Erfahrung, die hier auf kunstvolle Weise Gestalt gewinnt. Und auch das: Der Tod ist ständig in der Nähe.

Eva Schmidt: Ein langes Jahr. Roman. Jung und Jung. 209 S., geb., 20 €.

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