Drei Helden und ein Schlitzohr

Vicenzo Nibali ist beim letzten Gipfel des Giro d’Italia physisch und mental der Stärkste und holt sich den Sieg

  • Tom Mustroph, Turin
  • Lesedauer: 4 Min.
Vincenzo Nibali holt sich den Giro zurück. Esteban Chaves ist trotz Niederlage glücklich. Der lädierte Steven Kruijswijk hält trotz Schmerzen durch. Und Alejandro Valverde schleicht sich noch aufs Podium.

Den Skriptschreiber dieses Giro d‹Italia hätte kein Filmstudio, kein Produzent und nicht einmal die Filmförderung unterstützt. Zu unwahrscheinlich hätte es geklungen. Acht verschiedene Träger hatte das Rosa Trikot. Keiner konnte sich länger als fünf Tage hintereinander daran erfreuen. In den letzten drei Tagen wechselte es zwei Mal den Besitzer. Erst vom Niederländer Steven Kruijswijk, der schon wie der sichere Gewinner ausgesehen hatte, zum Kolumbianer Esteban Chaves. Der Bergfloh aus den Anden sah nun vor der letzten Bergetappe wie der designierte Sieger aus. Doch dann kam Vincenzo Nibali.

Der gedemütigte Favorit, der im Bergzeitfahren eingebrochen war und in den Dolomiten die Konkurrenz davonfahren lassen musste, zeigte Comeback-Qualitäten, wie sie selbst in diesem Sport der harten und ausdauernden Männer nur selten anzutreffen sind. Mehr als vier Minuten Rückstand hatte der Sizilianer vor den zwei Alpentagen. Vom Podium war er als Gesamtvierter ebenfalls gefallen. Ratlos war er auch. »Ich fühlte mich, anders als bei der Tour im letzten Jahr, gut in Form. Aber ich konnte die Leistung nicht auf die Pedalen bringen«, meinte er.

Während er keine Ursache für den Leistungseinbruch finden konnte, zumindest nicht öffentlich, wurde in Italiens Medien viel über die Versagensgründe spekuliert: Schlechte Stimmung im Team Astana, falsche Saisonvorbereitung mit zu viel Zielen wie Giro, Tour und Olympia sowie zu früher Formaufbau.

Das alles mag sich ausgewirkt haben. Der Unterschied von viereinhalb Minuten, die Nibali auf den zuvor so souverän wirkenden Niederländer Kruijswijk hinnehmen musste, ist damit aber kaum zu erklären. Klar, der kaum noch vom Thron zu stoßende Kruijswijk stürzte. Sein Steuerfehler auf der Abfahrt vom Dach des Giro, dem 2744 Meter hohen Colle dell›Agnello war Spannungshöhepunkt und Schlüsselmoment dieser Rundfahrt. Während Kruijswijk in den Schnee flog, sein beschädigtes Rad am liebsten in den selben geworfen hätte und es erst später gegen ein Ersatzrad ausgetauscht bekam, stürmten Nibali und Chaves davon.

Der Italiener holte sich den Etappensieg und kehrte aufs Podium zurück. Der Kolumbianer zog Rosa über. Kruijswijk konnte mit gebrochener Rippe und schmerzendem linken Fuß zumindest noch Rang drei vor Alejandro Valverde verteidigen.

Chaves schien danach der König des Giro zu werden. Der Andenkletterer vom australischen Rennstall Orica war bis dahin der Stärkste bei den Anstiegen. Dass er Rosa nur wegen des Sturzes von Kruijswijk trug, minderte für ihn den Wert nicht. »Wenn ein Rennen gestartet ist, dann gibt es kein Halten mehr«, meinte er. Und Kruijswijk gab den eigenen Steuerfehler zu: »Zum Radsport gehört auch, dass man auf dem Rad bleibt.«

Auf den 134 km vom französischen Guillestre zum Wallfahrtsort der Heiligen Anna von Vinadio im Piemont schließlich lieferte Nibali am Samstag dann sein Meisterstück ab. Über den gefürchteten Col de la Bonette blieb die Favoritengruppe noch zusammen. Am Colle della Lombarda zermürbte eine so brutale wie lang andauernde Tempoverschärfung von Nibalis Helfer Michele Scarponi die Konkurrenz. Nur sechs Mann konnten folgen, darunter Chaves, Valverde und auch der mit krankem Fuß und gebrochener Rippe steif auf dem Rad sitzende Kruijswijk.

Als Nibali schließlich zur Attacke blies, hielt niemand mehr mit. Unterwegs fand der Astana-Kapitän noch Hilfe durch den aus der Fluchtgruppe zurückgefallenen Mannschaftskameraden Tanel Kangert. Chaves hatte solche Hilfe nicht. Kein Orica-Trikot war vorn. Von hinten kam zwar noch Landsmann Rigoberto Uran herangestürmt. Der hatte aber nur Augen für Valverde. »Ich bin für Valverde gefahren. Wenn Chaves drangeblieben wäre, gut. Er musste uns aber ziehen lassen«, erklärte Uran diesen speziellen Moment. Der schlaue Spanier fuhr so auf den dritten Rang. Er hatte sich wenige Tage zuvor schon einen Etappensieg und die damit verbundene Zeitgutschrift gesichert. Und Pechvogel Kruijswiik tröstete sich so: »Ich weiß jetzt, dass ich um einen Gesamtsieg bei einer Rundfahrt kämpfen kann.«

Auch Chaves ist ein neuer Kandidat für einen großen Toursieg. Vielleicht schon in Frankreich. Und Nibali, bereits Sieger bei allen drei großen Rundfahrten, bestätigte nicht nur seine Ausnahmeposition. Er nimmt jetzt auch das nächste Ziel ins Visier - den Olympiasieg.

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