nd-aktuell.de / 31.05.2016 / Sport / Seite 19

Lieber im Stadion als vor Gericht

Wissenschaftler finden keinen eindeutigen Vorteil in Markus Rehms Prothese, schließen ihn aber auch nicht aus

Andreas Morbach, Köln
Laut einer Studie sind Bewegungen von nicht behinderten und behinderten Weitspringern mit Prothese nicht vergleichbar. Das macht Markus Rehm Hoffnung auf einen Olympiastart in Rio.

Markus Rehm hat seine ganz eigene Technik, auch bei der Verwendung von Kopfhörern. So lauscht der 27-jährige Paralympics-Sieger von London den Worten der Simultandolmetscherin zwar gespannt, aber auch mit einer gewissen Lässigkeit. Die eine Hälfte seines Kopfhörers hält er ans Ohr, die andere baumelt nutzlos in der Luft herum - während die Wissenschaftler aus Tokio, Köln und Boulder im US-Bundesstaat Colorado die Ergebnisse ihrer aktuellen Studie präsentieren. Die Forscher stellten umfangreiche Untersuchungen darüber an, ob unterschenkelamputierte Weitspringer wie Rehm durch ihre Prothese Vor- oder Nachteile gegenüber nichtbehinderten Sportlern haben. Mit dem Ergebnis: Sowohl, als auch.

»Wir konnten Nachteile beim Anlauf feststellen, die eindeutig der Prothese zugewiesen werden konnten. Auf der anderen Seite haben wir Vorteile aufgrund der verbesserten Sprungeffizienz erkannt«, erläutert Wolfgang Potthast. Zwei Details, die der Professor vom Institut für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule Köln in die neue, zentrale Erkenntnis münden lässt: »Es gibt völlig unterschiedliche Bewegungstechniken bei behinderten und nicht behinderten Weitspringern, die sich nach aktuellem Stand nicht eindeutig gegeneinander aufwiegen lassen.«

Für Markus Rehm ist das Resultat aussagekräftig genug, um seinen Start bei den Olympischen Spielen in Rio weiterhin für möglich zu halten. Ins Visier nimmt der gebürtige Göppinger dabei vor allem den Internationalen Leichtathletik-Verband (IAAF), der mit einer Regeländerung im August 2015 dafür sorgte, dass nun die Athleten selbst nachweisen müssen, durch »mechanische Hilfen« keinen Vorteil zu erlangen. Das sei mit der in Köln präsentierten Studie erfolgt, sagt Rehm, spricht von einem »schönen Ergebnis« und betont: »Im Zweifel für den Angeklagten - nach dem Motto könnte ich jetzt versuchen, mich einzuklagen. Aber das ist nicht meine Absicht.«

Der Orthopädietechniker-Meister vom TSV Bayer Leverkusen wäre beileibe nicht der erste Athlet mit Handicap, der beim Spektakel um die fünf Ringe dabei ist. Pionier war der Deutschamerikaner George Eyser, der bei den Spielen 1904 in St. Louis für die USA Gold am Barren, im Pferdsprung und beim Tauhangeln gewann - obwohl er mit einem Holzbein antrat. Ihm folgten seitdem weitere 20 Sportler mit Behinderungen - bis hin zum Start des beidbeinig amputierten Südafrikaners Oscar Pistorius bei den Spielen in London.

Rehm vermied es am Montag, den Namen Pistorius auszusprechen. »Ich gehe einen anderen Weg als den, den er gewählt hat, indem er vor den Internationalen Sportgerichtshof gezogen ist. Ich will einen fairen Wettkampf - und mir nicht mit Rechtsanwälten Argumente an den Kopf werfen«, macht er deutlich.

Bei den Paralympics 2012 gewann Rehm Gold im Weitsprung und holte Bronze mit der 4x100-Meter-Staffel. Zwei Jahre später wurde er mit 8,24 Metern deutscher Meister im Weitsprung - bei den nichtbehinderten Sportlern. Am vergangenen Mittwoch schließlich schaffte er in Innsbruck mit 8,18 Metern als erster DSV-Springer die Norm für Rio - und geht nun die IAAF an. »Ich verstehe ernsthaft nicht, was dagegen spricht, sich an einen Tisch zu setzen«, ereifert sich Rehm über das andauernde Versteckspiel der Funktionäre. Unterstützung bekommt er von Friedhelm Julius Beucher, dem Präsidenten des Deutschen Behindertensportverbandes, der wettert: »Der Weltverband kann sich nicht in die Büsche schlagen. Wir werden in dieser Sache Klarheiten einfordern.«

Doch die Zeit drängt, die Spiele in Rio beginnen in gut zwei Monaten. »Für manche ist es naheliegend, die Geschichte an den Nagel zu hängen. Ich bin da noch optimistischer«, erklärt Rehm, der mit Blick auf die vielen Dopingfälle in der Leichtathletik und im olympischen Sport die eine oder andere Spitze anbringt. »Ich würde auch sehr, sehr gerne in getrennten Wertungen starten, denn auch so wäre es eine große Bereicherung für die Spiele - und dem Weltverband stünden positive Geschichten gut zu Gesicht«, erwähnt er süffisant und sagt mit Blick auf die anderen behinderten Athleten: »Für meinen Sport wäre es die Chance, eine größere Bühne zu bekommen. So eine, wie sie die Olympischen Spiele noch haben.«

Eine Entscheidung in seinem Fall wird es frühestens beim nächsten IAAF-Council am 17. Juni in Wien geben. »Mir geht es nicht um eine Medaille bei den Nichtbehinderten. Ich möchte die Paralympischen und die Olympischen Spiele zusammenbringen, möchte, dass sie nicht so hart getrennt sind«, erklärt Rehm. »Das wäre ein großes Zeichen - für den ganzen Sport.«