Das anonyme politische Subjekt

Zwei Bücher über die neuen Schauplätze der Revolte

  • Sebastian Loschert
  • Lesedauer: 5 Min.

Jedes Jahr neue Platzbesetzungen, Aufstände, farbige Revolutionen: Die Revolte ist in aller Munde. Zwei neue Bücher aus Frankreich nehmen sich ihrer nun an, doch die poststrukturalistisch geprägten Texte interessieren sich nicht allzu sehr dafür, was sich auf den Straßen tut. Stattdessen legen sie den Fokus auf andere Schauplätze der Revolte: Den Netzaktivismus und die «innere Erfahrung» des Individuums.

Da ist zunächst der Essay des französischen Philosophen und Soziologen Geoffroy de Lagasnerie. Im Handeln von Whistleblowern und Netzaktivisten wie Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning sieht er eine neue «Kunst der Revolte» am Werk, die sich zwar nicht im Tageslicht zeigt, die aber die Gesellschaft desto tiefgreifender verändere.

De Lagasnerie skizziert, wie die Aktivisten ihre Existenz aufs Spiel setzten, um die Öffentlichkeit über geheimes Staatshandeln aufzuklären. Er interpretiert diese Revolte jedoch nicht als eine Form des klassischen zivilen Ungehorsams, der die Exekutive zur Gesetzestreue aufrufen wolle. Stattdessen seien die drei Aktivisten Teil einer neuen und einzigartigen Bewegung, die «die politische Bühne selbst in Frage» stelle. Der junge Autor bewundert seine drei Zeitgenossen offensichtlich und will, ihnen theoretisch nacheifernd, eine entsprechend radikale Philosophie formulieren. In Auseinandersetzung mit Giorgio Agamben und Judith Butler versucht er, eine «Kritik des Rechts in seiner Positivität» zu leisten und «die Kategorien der Rechtsordnung und der Politik selbst» zu hinterfragen.

Aber was soll an der Praxis der Whistleblower so radikal neu sein? Zunächst die Anonymität, meint der Autor: Nicht mehr mit seinem Namen bürgen, sein Gesicht nicht zeigen müssen, mache es heute jedem möglich, Missstände aufzudecken, ohne mit Repressalien rechnen zu müssen. Heroismus und Opferbereitschaft sind überflüssig nach der «Erfindung eines anonymen politischen Subjekts», feste soziale Strukturen keine Bedingung mehr für Widerstand. Es finde eine «Art von sozialer Entflechtung des Akts des Engagements» statt und eine Befreiung «von der Bühne der Ethik». Diese Effekte der Anonymität begrüßt de Lagasnerie als mögliche Grundlagen einer demokratischeren, «reineren» Politik. Ebenso betont er die «Praxis der Flucht» von Snowden und Assange. Er wendet sie positiv, versteht das Flüchten als einen aktiven Vorgang, eine Art Staatsstreich, der die scheinbar selbstverständliche Tatsache, einer Gemeinschaft qua Geburt anzugehören, in Frage stellt und politisiert.

De Lagasnerie ist sich des Problems bewusst, dass die drei Vorbilder nicht immer zu seiner Theorie passen. So gründete Assange eine politische Partei in Australien und Snowden hatte nie vor, anonym zu bleiben. De Lagasnerie sagt deshalb, dass die Aktivisten Teil einer Tendenz seien, «von der sie selbst nichts wissen».

Eine gewagte Konstruktion, die im Laufe des Buches so manches Mal knirscht. Dass an ihr aber etwas dran ist, wurde erst vor kurzem wieder deutlich, als die anonyme Quelle der «Panama Papers» ein Manifest veröffentlichte. Unter dem Pseudonym John Doe erklärte der Whistleblower seine Motivation. Er habe eigenverantwortlich gehandelt und schlicht «beim Anblick der Dokumente genug begriffen, um zu verstehen, wie ungeheuerlich ihr Inhalt ist.» Seine Identität verberge er jedoch, weil er wisse, wie die Leben von Whistleblowern in den USA und Europa zerstört wurden. Die nächste Revolution werde digital sein, vermutet John Doe am Ende seines Schreibens. Und eine «Entnationalisierung der Geister» könne das Ergebnis dieser Revolte sein, mutmaßt de Lagasnerie.

Oder sollte die nächste Revolution zunächst eine der inneren Befreiung sein? Eine, die im «psychischen Leben» und «dessen gesellschaftlichen Bekundungen (Schreiben, Denken, Kunst)» stattfindet? Das hofft eine der Gründungsfiguren des Poststrukturalismus, Julia Kristeva, in ihrem Buch «Die Zukunft einer Revolte».

Die in Bulgarien geborene, 1965 nach Frankreich ausgewanderte und anschließend vom Maoismus enttäuschte Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin setzt politisch-ökonomischen Umwälzungen in den jetzt vorliegenden Essays aus den späten 1990er Jahren ein vertröstendes «später» entgegen. Vielleicht, so spekuliert sie, sei die «Stunde der großen Werke noch nicht gekommen», weshalb nur bleibe, unser «inneres Leben im Zustand der Re-volte» aufrechtzuerhalten«. Im aktuellen Vorwort schreibt sie: »Die Innerlichkeit ist nicht der neue Kerker. Ihr Bedürfnis nach Bindungen könnte eine neue Politik begründen, später. Jetzt weiß das Seelenleben nur zu genau, daß es nur gerettet wird, wenn es sich Zeit und Raum für Revolten gewährt.«

Diese Revolten spielen nicht in der »Welt des Handels« und des kalkulierenden Denkens, stellt sie klar, und die Freiheit, um die es ihr geht, besteht nicht darin, sich den Notwendigkeiten von Ursache und Wirkung anzupassen. Diese Art von Freiheit meint sie, bei Kant zu finden. Dem zieht sie Heideggers etwas rätselhafte »Befreiung des Seins zur Sprache« vor. Freiheit als unendliches Fragen, als »Selbstoffenbarung in der Anwesenheit des anderen mittels des gegebenen Worts« sei heute notwendig - und die psychoanalytische Sitzung das ideale Instrument.

Die Revolte ist für Kristeva ein permanenter Neubeginn, eine »Befragung der Wertesysteme ins Unendliche«, »im Sinne eines freien, unabhängigen Fragens, einer permanenten Unruhe«, einer »ständigen Wiedergeburt«. Der Sinn der Revolte sei demnach auch nicht etwa Versöhnung, sondern sie führe den modernen Menschen »in eine Situation, deren Konflikthaftigkeit fortan nicht mehr aufhebbar ist«.

So sehr Kristeva allerdings die permanente Revolte in der Psyche des Individuums, in Kunst und poetischer Sprache schätzt, so wenig scheint ihr diese jenseits dieser Bereiche geheuer zu sein. Darauf weist nicht nur ihr omnipräsentes »später« hin, sondern auch Wortmeldungen in den vergangenen Jahren. In einem FAZ-Interview von 2013 etwa bezeichnete sie Empörung als eine »jugendlich-unreife Reaktion, die keine glaubwürdige Alternative benennt« und als »eine Haltung, die zum Dogmatismus verleitet; sie ist ihrem Wesen nach totalitär und todbringend. Die Empörung ist eine europäische Sünde, ein negativer Narzissmus.«

Beide Bücher, die einen anderen Blick auf die Revolte vorschlagen wollen, betonen das Fragen. De Lagasnerie will vor allem eingefahrene Denkmuster hinterfragen und Verhältnisse problematisieren, Julia Kristeva bezeichnet Fragen sogar als »einzige Möglichkeit des Denkens«. Beim Lesen des ersten Buches begreift man, wohin der Zug fahren könnte, beim Lesen des zweiten immerhin, dass er wahrscheinlich Verspätung haben wird.

Geoffroy de Lagasnerie: Die Kunst der Revolte. Suhrkamp. 158 S., geb., 19,95 € Julia Kristeva: Die Zukunft einer Revolte. Brandes & Apsel. 128 S., geb., 12,90 €.

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