nd-aktuell.de / 14.06.2016 / Kopfball - die EM im Feuilleton / Seite 16

Kein Public Viewing auf dem Spielplatz

Die Feuilleton-EM-Kolumne

Jochen Schmidt
Mein Sohn ist meine einzige Hoffnung, trotz Versorgungslücke im Alter nicht zu verhungern. Ob er nun Fußballprofi wird oder Theaterintendant, ist mir dabei ganz egal, Hauptsache das Geld reicht für uns alle.

Huch, schon wieder EM? Das geht ja schneller als mit den Geburtstagen der Freundin, die, wie mir scheint, auch öfter als einmal im Jahr gefeiert werden, wobei sie sich meine Unfähigkeit zunutze macht, mir das genaue Datum zu merken. Und sollte die EM nicht diesmal in Quatar stattfinden? Oder war das die Tour de France?

Seit dem letzten Turnier hat sich in meinem Leben viel getan, vor allem habe ich eine Wandhalterung für den Flachbildschirm angeschraubt. Bisher stand er im Kinderställchen, weil sich Fritzchen zweimal drangehängt hatte und damit umgekippt war, während er nie im Ställchen sitzen wollte. Fritzchen ist auch der Grund, warum ich zum ersten Mal seit Jahrzehnten nicht alle Spiele gucken kann, leider gibt es ja noch kein Public Viewing auf Spielplätzen. Also spielen wir in der Zeit, wo die anderen gucken, selber Fußball.

Wenn ich ihm jetzt die Beidfüßigkeit antrainiere, wird er ein ganz Großer, denn bei den Spitzenspielern hat das meistens der Vater getan. Aber ich bin schon froh, wenn er den Ball nicht dauernd mit Absicht in die Büsche schießt, damit ich ihn wieder raushole. Er ist ja meine einzige Hoffnung, trotz Versorgungslücke im Alter nicht zu verhungern. Ob er nun Fußballprofi wird, Versicherungsmakler oder Theaterintendant, ist mir dabei ganz egal, Hauptsache das Geld reicht für uns alle. Podolski ist in der Vorbereitung Vater geworden und sitzt schon wieder auf der Auswechselbank, über Elternzeit scheint er nicht nachzudenken. Und wer bringt in den Wochen, die er sich in Frankreich mit seinen Fußballkumpels rumtreibt, den Windelsack zum Müll?

Das Abendspiel konnten wir dann doch noch gucken, nachdem Fritzchen endlich eingeschlafen war. Ich bin ja für die Ukraine, damit der Krieg dort aufhört, für Frankreich, damit sich dort alle versöhnen, für Wales, Nordirland, Albanien, Island, weil ich dort gerne Urlaub machen würde, ich bin eigentlich für fast alle Mannschaften und dann auch noch für einzelne Spieler, besonders für die Kleinen. Das Schöne am Fußball ist ja, dass in diesem Sport die Kleinen oft die Besten sind. Wenn so ein Kleiner auch noch eine Glatze hätte, wäre er mein absoluter Lieblingsspieler.

Meine Freundin fragt mich, seit wann Robert Huth nicht mehr mitspielt bei Deutschland. Dass Khedira den Ball genau auf den Torwart geschossen hat, ärgert sie. »Aber die Ballannahme vorher war doch Klasse!« - »Na und? Die üben das ja auch den ganzen Tag.« Die Deutschen sind gegen die Ukraine zeitweise so überlegen, dass Boateng den Ball ins eigene Tor schießt, um im selben Moment höchstpersönlich auf der Linie zu retten. Wir können einfach alles.

In der 90. Minute wird Schweinsteiger eingewechselt und schießt das 2:0. Da fragt man sich doch, warum er nicht früher eingewechselt wurde, um das erlösende Tor zu schießen? Die Luft reicht bei ihm noch nicht für 90 Minuten, hört man, aber man hätte ihn ja danach gleich wieder auswechseln können? Er altert irgendwie an mir vorbei und hat schon graue Haare, während Jogi Löw immer noch so ein gutaussehender Mann ist, wie meine Freundin sagt. Und Gomez geht vor dem Spiel aus Aberglaube immer aufs linke Pissoir. Und Hummels ist schon wieder »im Mannschaftstraining«. Und in zehn Jahren ist Draxler ein alter Mann, mein Handy hat ein 100-Zoll-Display, der Rasen ist rot, weil Coca Cola die FIFA gekauft hat und der Ball ist flach, um Werbung für Apple zu machen.