nd-aktuell.de / 16.06.2016 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 9

Schäuble lockt Länder mit Sondersparrechten

Sozialgesetzgebung soll in Landesverantwortung eingeschränkt werden können / Ver.di zeigt sich alarmiert

Paul Alexander
Die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern sollen neu geordnet werden, ein endloses Tauziehen ist seit Monaten die Folge. Nun sorgt eine neue Idee aus Berlin für zusätzliche Besorgnis.

Hinter verschlossenen Türen werden an diesem Donnerstag die Ministerpräsidenten der Länder mit dem Bund ihre Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen fortsetzen. Inzwischen ist ein weitreichender Sparvorschlag von Wolfgang Schäuble (CDU) durchgesickert, mit dem der Finanzminister nebenbei einen alten Vorschlag auf die Agenda setzen will. Ver.di-Chef Frank Bsirske erwartet einiges Ungemach, wie ein offener Brief an alle Mitglieder des Bundestages erkennen lässt. Er warnt vor einer Einführung von Länderöffnungsklauseln in der Sozialgesetzgebung. Damit könnten bestehende bundeseinheitliche Sozialstandards regional abgesenkt werden.

Konkret geht es um die «Abweichungsrechte für Art und Umfang der Leistungsgewährung» für die Kinder- und Jugendhilfe sowie für die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen. Es stehe «zu befürchten, dass Leistungen, zu denen der Bund die Länder und Kommunen verpflichtet hat, zumindest in einigen Ländern eingeschränkt oder abgeschafft werden könnten», heißt es in Bsirskes Brief an die Abgeordneten. Das könnte z.B. auch den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz betreffen, der dann auf Landesebene nicht mehr umgesetzt werden müsste.

Finanziell geht es hier nicht um Peanuts. Allein die Ausgaben für die Eingliederungshilfe betrugen 2013 rund 15,6 Milliarden Euro. Die Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe beliefen sich 2014 auf rund 37,8 Milliarden Euro. Betroffen sind Ansprüche von Eltern, Kindern und Hilfebedürftigen.

Im Bundestag hat sich die LINKE des Themas angenommen. Auf Nachfrage der Vizefraktionsvorsitzenden Sabine Zimmermann stritt das Bundesfinanzministerium ab, einen konkreten Vorschlag für Abweichungsrechte beim Kinder- und Jugendhilfegesetz sowie der Eingliederungshilfe gemacht zu haben. Immerhin wurde aber eingeräumt, dass man den Ländern einen eigenen Vorschlag zur «Stärkung der Entscheidungs- und Einflussmöglichkeiten» der regionalen Ebene auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung« gemacht habe.

Das ist mehr als das, was Familienministerium von Manuela Schwesig (SPD) zugeben wollte. Dort fragte der linke Abgeordnete Norbert Müller Anfang Juni nach, ob an einer Länderöffnungsklausel im SGB VIII gearbeitet werde. In der Antwort der parlamentarischen Staatssekretärin Caren Marcks heißt es dazu lediglich, dass man mit den Ländern im Austausch über »eine Verbesserung der Steuerungsmöglichkeiten« stehe. Aus einem bereits vom Mai 2016 datierenden Vermerk aus dem Familienministerium geht jedoch hervor, dass die Überlegungen für eine Länderöffnungsklausel offenbar schon konkrete Formen angenommen haben. Demnach sollte die Klausel vor allem die Leistungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreffen.

Trotz aller Bemühungen der beiden Bundesministerien, ihre Antworten möglichst vage zu halten, haben sie sich durch die Differenzen in ihren Antworten in Widersprüche verwickelt. Wenn es einen Vorschlag Schäubles für Öffnungsklauseln gibt, dann sollte auch das Schwesig-Ministerium davon wissen.

Abweichungsrechte gibt es schon seit der ersten Föderalismusreform für bestimmte Bereiche, beispielsweise im Naturschutz, bei der Hochschulzulassung, auch bei der Fachaufsicht der Landesjugendämter. 2009 versuchten CDU und CSU sowie Bayern und Hessen in der zweiten Föderalismusreform die Abweichungsrechte auch auf den Sozialbereich auszudehnen, scheiterten aber damit an einer breiten Ablehnungsfront in den Ländern.

»Das Perfide an den Abweichungsrechten ist, dass sie nur eine Zielgruppe kennen: Hilfebedürftige und Menschen mit geringem Einkommen«, sagte LINKE-Abgeordnete Zimmermann. Es gehe hier nicht nur um die Leistungen für Kinder, Jugendliche und Menschen mit Behinderungen, sondern auch um einen Einstieg in die Regionalisierung der gesamten Sozialgesetzgebung. Das wäre eine weitere dramatische Schwächung des Sozialstaates.

Die Einführung von Abweichungsrechten wäre in ihrer langfristigen Wirkung auf breite Bevölkerungskreise durchaus vergleichbar mit den Wirkungen von Hartz IV. Nur dass diesmal nicht der Bund verantwortlich zu machen wäre für das daraus erwachsende soziale Desaster, sondern die politisch Verantwortlichen in den Bundesländern.