nd-aktuell.de / 21.06.2016 / Kultur / Seite 16

Schlachten unterwegs

Erik Neutsch wäre 85

Hans-Dieter Schütt

Der Arbeiter-Dichter war ein ostdeutsche Konstante. Schlachten unterwegs zwischen Poesie, Problembewusstein und propagandistischer Bronze. Wahre Dichtung als Ausnahme: Volker Braun, als führe ein Eisenwagen durchs Werksgelände einer gleisbrüchigen Revolution. Wolfgang Hilbig, als melde sich der Heizer eines Totenschiffs. Und Erik Neutsch. »Spur der Steine« auf Bitterfelder Wegen hin zu Wegscheiden, wo es wesentlich wird. Robust, roh, romantisch. Arbeiter: die herrschende wie angeherrschte Klasse. Eine Zeit, da Menschen ihrer Arbeit nicht nachstellten wie Bettler, sondern ihr nachgingen, indem sie aus ihr hervorgingen.

»Spur der Steine«: Wilder Osten Schkona. Eine Großbaustelle: Vorn aufbauen, hinten niederreißen oder umgekehrt: So läuft das sozialistische Wirtschaftsabenteuer. Neutschs Roman als wohl trefflichstes Kunststück der DDR-Literatur über den Kosmos der Zerrissenheiten: zwischen niederdrückenden Zwängen und hochfliegenden Träumen. Erfolgreiches Buch, DDR-lang verbotener Frank-Beyer-Film, Motivfundus für Heiner Müllers »Bau«.

Neutschs Naturell fehlte alles Spitzfindige, Gefinkelte - das Gemüt des Autors wiederholte lebenslang dessen körperliche Statur. Ihm blieb auch die freie Welt, nach dem Ende der DDR, eine Landschaft aus Klotz und Keil - da mochte Grobheit schon als Weisheit gelten. Der 1931 Geborene schrieb immer an Frontabschnitten. Wer Manuskripte jahrelang auf Parteischreibtischen liegen sieht, als lägen sie auf Folterbänken, der geht selber durch die Pein. Aber Neutsch hatte rabiate Kraft. Im rundum wachsenden Fingerspitzengefühl für die Überlebtheiten von Klassenkampf und Parteilichkeit blieb er faustdick und feindbildtreu.

Die Novelle »Zwei leere Stühle« fragt nach den zerrenden Energien zwischen pädagogischem Impetus des Staates und dem Recht des Einzelnen auf Eigensinn. Der Roman »Auf der Suche nach Gatt« erzählt von den Abgründen eines Aufstiegs: der Arbeiter, der zum Journalisten wird; da verlässt ein Mensch seine Wirklichkeit - wie weit entfernt er sich dabei von seiner Wahrheit? Neutsch, der Wissende - als einstiger Wirtschaftsredakteur der Hallenser »Freiheit« kannte er die Wirbelzonen zwischen Leben und Lüge. War immer ein Streiter fürs Leben. Das er kannte, das er dort (mitunter nur dort?) aufsuchte und aufspürte, wo noch die Konfliktschärfe den Glauben steigerte, dieser stagnative Sozialismus sei rettbar, veränderbar. Seine Sprache: direkt, aus der guten Reportage kommend, spannungsversiert, unversponnen, treibend, emotional.

In seinen besten Werken - bis hin zur engagiert fühlenden Studie über den dichtenden Revolutionär Georg Forster - bleibt dieser Schriftsteller ein Nachhaltiger, also groß. Während das Mammutwerk »Der Friede im Osten« nicht größer wird durch die tiefwühlende Mühe, mit der Neutsch schrieb, umschrieb, neu schrieb, weiterschrieb. Just da, wo er epochal werden wollte, blieb er zeitzäh uferlos. Ich las erste Teile des Zyklus einst mit Begeisterung und begegne darin heute nur der eigenen weltanschaulichen Zurechtstutzungstechnik.

An diesem Dienstag wäre Erik Neutsch, der 2013 starb, 85 geworden.