Balsam für die Seele

Wissenschaftler erforschen die Wirkungen von Musik auf den Menschen: Was davon aber ist belegbar und was ist reine Fiktion?

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Von African Gospel bis Mozarts Zauberflöte, von den Trommelritualen der Hopi bis Heavy Metal: Die Formen des musikalischen Ausdrucks sind unerschöpflich und kulturell verschieden. Eines jedoch verbindet Menschen weltweit, nämlich die Lust, mit anderen zu singen oder zu musizieren. Das ist heute so und war vermutlich auch bei unseren frühen Vorfahren nicht anders. Dafür sprechen nicht zuletzt archäologische Funde, die dokumentieren, dass Menschen bereits vor rund 35 000 Jahren aus Tierknochen einfache Flöten herstellten.

Die Frage, warum die Musik als Kunstform eine so weite Verbreitung gefunden hat, bewegte auch Charles Darwin. Für den Begründer der Evolutionstheorie war die Urform der Musik, das Singen, vormals ein Balzritual. Wer am lautesten und schönsten sang, demonstrierte damit seine Fitness sowie seine Fähigkeit, Emotionen ausdrücken zu können. Bis heute gelten Menschen, die Musik machen, als erotisch anziehend. Namentlich für Popstars ist es oftmals ein Leichtes, ihre vornehmlich weiblichen Fans in Ekstase zu versetzen.

Andere Wissenschaftler, darunter der niederländische Verhaltensbiologe Frans de Waal, vertreten die Auffassung, dass Musik vor allem ein kollektives Erlebnis ist und unseren Vorfahren half, den Zusammenhalt und damit die Überlebensfähigkeit der Gruppe zu stärken, sei es durch Singen, Tanzen oder rhythmisches Trommeln. Auch diese Funktion hat sich über die Zeiten großenteils erhalten. Man denke nur an die Fangesänge beim Fußball oder das sakrale Liedgut in der Kirche. »Früher spielte ich Klavier in einer Band«, erzählt de Waal. »Wir waren nicht gerade sehr erfolgreich, aber ich lernte, dass gemeinsames Auftreten bestimmte Dinge voraussetzt - Rollenübernahme, Großzügigkeit und Einklang im wahrsten Sinne des Wortes. Und das in einem Maß, wie ich es bei wenigen anderen Tätigkeiten gefunden habe.«

Nicht auszuschließen ist, dass die ersten musikalischen Versuche des Menschen gar keinem Zweck dienten, sondern nur ein lustvolles »Nebenprodukt« des Spracherwerbs darstellten. Welche Theorie nun die richtige ist, lässt sich heute natürlich nicht mehr verifizieren. Vermutlich steckt in jeder ein Körnchen Wahrheit, zu der auch gehört, dass Musik, einmal erfunden, sich zu einer essenziellen Form humaner Daseinsbewältigung entwickelt hat. Oder, um den französischen Schriftsteller Victor Hugo zu zitieren: »Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.«

In ihrem unlängst erschienenen Buch »Musik mit Leib und Seele« zählen Claudia Spahn und Bernhard Richter vom Freiburger Institut für Musikmedizin die Musik sogar zu den seelischen »Grundnahrungsmitteln« des Menschen. Sie verweisen dabei auf eine Studie, aus der hervorgeht, dass das weithin beliebte Singen im Chor Stresssymptome mildert, das Immunsystem stärkt und die Ausschüttung von »Glückshormonen« (Endorphinen) anregt. In Schweden sind Forscher auf einen nicht minder bemerkenswerten Zusammenhang gestoßen. Danach haben Personen, die sich regelmäßig kulturell betätigen, also zum Beispiel in die Oper oder ins Konzert gehen, eine höhere Lebenserwartung als sogenannte Kulturverweigerer.

Ein aufsehenerregendes Experiment führten 1993 die US-Psychologin Frances Rauscher und ihre Kollegen an der University of California durch. Studenten mussten dort einen Intelligenztest absolvieren. Zuvor bekam eine Gruppe zehn Minuten lang Mozarts Sonate für zwei Klaviere in D-Dur zu hören, während sich die zweite Gruppe ohne Musik entspannte. Ergebnis: Im IQ-Test schnitten die Studenten der Mozart-Gruppe bei räumlichen Aufgaben um 8 bis 10 Punkte besser ab als die Studenten der Vergleichsgruppe. Wie Rauscher erklärte, sei dieser Effekt mit der Musik anderer, vor allem moderner Komponisten nicht zu erzielen. Im US-Bundesstaat Florida legten Politiker daraufhin fest, dass in öffentlichen Kindergärten täglich eine Stunde Mozart gehört werden solle. Das war gewiss nicht die schlechteste Idee, um Kinder an klassische Musik heranzuführen. Nur: Der sogenannte Mozart-Effekt konnte in Nachfolgestudien nicht reproduziert werden und gilt heute als widerlegt. Musik hat zwar eine starke emotionale Wirkung, sie führt jedoch nicht unvermittelt zur Erhöhung unserer kognitiven Leistungen.

Das heißt wiederum nicht, dass Musik nur spezielle Gefühlsareale des Gehirns beeinflussen würde. Im Gegenteil. »Musik beansprucht unser ganzes Gehirn«, sagt der Ulmer Psychiater und Jazztrompeter Manfred Spitzer. »Ein Musikzentrum im eigentlichen Sinn gibt es nicht.« Gelegentlich wird behauptet, dass Veränderungen des Gehirns besonders bei Menschen auftreten, die schon früh ein Instrument erlernen. Bei ihnen ist der sogenannte Balken zwischen beiden Hirnhälften im Schnitt dicker als bei Nicht-Musikern. Zwar geht das Üben von koordinierten Bewegungsabläufen mit einem stärkeren Informationsfluss zwischen linker und rechter Gehirnhälfte einher. Die Richtung einer möglichen Kausalität ist damit aber keineswegs festgelegt. So könnte regelmäßiges Musizieren durchaus zu einer Vergrößerung des Balkens führen. Denkbar wäre aber auch, dass Menschen, die anlagebedingt über ein stärker vernetztes Gehirn verfügen, sich mit einem Instrument einfach leichter tun.

Nach wie vor umstritten ist, ob Musik sich unmittelbar für medizinische Heilzwecke eignet. Zu den Regelleistungen der gesetzlichen Krankenkassen gehören Musiktherapien hierzulande nicht. Dabei gibt es durchaus positive Erfahrungen. Zum Beispiel bei Demenzpatienten, bei denen vertraute Melodien und Rhythmen vergessene Erinnerungen aktivieren können. Menschen mit psychischen Störungen sprechen in der Regel ebenfalls gut auf eine Musiktherapie an, was angesichts der großen emotionalen Wirkung von Musik plausibel scheint. Aber auch gegen Tinnitus, Magersucht und Schuppenflechte soll Musik helfen. Was Kritiker bezweifeln. Da die Musiktherapie im Kern eine Psychotherapie sei, so ihr Argument, könnten die berichteten Besserungen großenteils auf den Placeboeffekt zurückgehen. Traditionell eng ist die Verbindung von Musik und Bewegung. Das beginnt schon damit, dass die »Atome« der Musik, die Töne, durch Bewegung erzeugt werden, etwa durch schwingende Saiten. Stärker als andere Kunstformen kann Musik Bewegung auch abbilden. Ein gutes Beispiel dafür ist »Die Moldau« von Bedřich Smetana, in der, so der Komponist, der Lauf des gleichnamigen Flusses von zwei kleinen plätschernden Quellen bis zu seiner Mündung in die Elbe tonmalerisch beschrieben werde.

Nicht zuletzt verführt Musik Menschen dazu, ihre Emotionen in Bewegungen auszudrücken. Auf diese Weise wird die Magie der Musik für den Einzelnen auch körperlich spürbar. Jeder, der schon einmal ein Pop- oder Rockkonzert besucht hat, kennt das damit verbundene Gänsehautgefühl. Leider sei diese Art des Musikkonsums bei klassischen Konzerten verpönt, meint Verhaltensforscher de Waal. Aus Angst, unangenehm aufzufallen, wagten es die Besucher nicht einmal, mit den Füßen zu klopfen. So als wäre klassische Musik eine reine »Kopfmusik«, die strengste körperliche Disziplin verlange. Von der starren Kleiderordnung gar nicht zu reden. Dass es auch anders geht, zeigen die Berliner Philharmoniker. Sie spielen jedes Jahr zum Saisonabschluss in der Berliner Waldbühne, wo sich Tausende Besucher zu einer Art Kulturpicknick treffen. Und klassische Musik in einer Form genießen, die ansonsten zu Unrecht als kulturlos gilt.

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