nd-aktuell.de / 26.07.2016 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 9

Geschäfte gehen ihren Gang

Putsch und Gegenputsch in Ankara lassen die Wirtschaft kalt - Großprojekte locken

Hermannus Pfeiffer
Aus Sicht der EU ist die Türkei nicht nur ein Fels in der Brandung gegen Flüchtlinge, sondern auch einer der wichtigsten Handelspartner. Das wird wohl so bleiben.

Die Lira fällt ins Bodenlose, das ausländische Kapital flieht außer Landes und die Wirtschaft versinkt in einer Rezession. Den Preis, den die Türkei für den Ausnahmezustand zahlt, ist hoch. Dieses düstere Bild zeichnen Schlagzeilen. Doch die Wirklichkeit kommt - wie schon nach der historischen »Brexit«-Entscheidung vor wenigen Wochen - eher unspektakulär daher: So verlor die türkische Lira nicht etwa an Wert, sondern nach der harten Reaktion von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf den Militärputsch legte der Kurs der Währung sogar zu.

Das türkische »Wirtschaftswunder« hatte bereits vor Erdogan begonnen. Während der Krise 2001 berief Premierminister Bülent Ecevit den damaligen Vizepräsidenten der Weltbank, Kemal Dervis, zum Wirtschaftsminister. Der Sozialdemokrat setzte ein straffes Stabilisierungsprogramm durch: Marode Banken wurden mit Staatsgeld saniert, die Unabhängigkeit der Zentralbank gestärkt, Landwirtschaft und Energiesektor privatisiert. Das führte zu sozialen Härten - und zog öffentliche und private Investoren an. Die Wirtschaft wuchs, die Inflationsrate schrumpfte von 70 Prozent auf einstellige Werte, die Zinssätze für Kredite sanken. Was wiederum Investitionen im Land beflügelte und neue Jobs schuf.

Dervis ging, Ministerpräsident Erdogan kam. Und setzte den erfolgreichen Wirtschaftskurs fort. Die Regierung in Ankara investierte in Infrastruktur. Eine modernisierte Tourismusbranche lockte 2015 trotz Terrorängsten 5,5 Millionen Bundesbürger und Millionen Russen an die Strände des Mittelmeeres. Noch mehr profitierte die türkische Wirtschaft von der Rückkehr beruflich qualifizierter »Gastarbeiter« vor allem aus Deutschland und der Gunst der Globalisierung: Industrien wie Schiffbau und Textil, die aus der EU weitgehend verschwanden, siedelten sich im Billiglohnland Türkei an. Noch im ersten Quartal stieg das Bruttoinlandsprodukt um fünf Prozent. »Vor allem der private Verbrauch«, analysiert Germany Trade & Invest (GTAI), die Außenwirtschaftsorganisation des Bundeswirtschaftsministeriums, »erweist sich als treibende Kraft.«

Bereits im Dezember 2004 hatten die Regierungschefs der EU-Länder beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit Erdogans Türkei aufzunehmen. Seither wuchs die Wirtschaftsverflechtung rasant. Heute ist die EU für die Türkei mit über 140 Milliarden Euro wichtigster Handelspartner. Auch für Europa hat die Türkei an Gewicht gewonnen - als siebtgrößter Im- und fünftgrößter Exportmarkt.

Wie Tschechien oder Polen ist die Türkei heute eine verlängerte Werkbank westeuropäischer Industrieunternehmen wie Daimler. Österreich, die Niederlande und Großbritannien sind milliardenschwere Akteure im Energiesektor. Israel wird mit Trinkwasser versorgt. Aber die Türkei ist auch für Schweppes, Nestlé und andere Nahrungsmittelkonzerne ein wichtiger Absatzmarkt. Rund 50 000 ausländischen Firmen sind im Land registriert, 7000 davon aus Deutschland, dem wichtigsten ausländischen Investor. Bereits vor über 110 Jahren schuldete die Deutsche Bank die osmanischen Staatsschulden um, 1910 eröffnete Bosch eine seiner ersten ausländischen Niederlassungen in Konstantinopel.

Ob der Handel mit Deutschland weiter floriert, ist fraglich, heißt es bei GTAI. »Wir halten uns mit einer Einschätzung zurück«, sagt ein Sprecher. Zu viel sei passiert. Zurückhaltung ist auch bei der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer angesagt: Mit einer Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen rechne man aber nicht. Nach einer kurzen Phase mit Turbulenzen dürften die Geschäfte wieder den gewohnten Gang nehmen, erwarten Bankanalysten. Zu verlockend scheinen viele Großprojekte Erdogans wie der Bau eines 44 Kilometer langen Istanbul-Kanals, der internationale Flughafen Kemerburgaz für 150 Millionen Passagiere oder das AKW Sinop an der Schwarzmeerküste.