nd-aktuell.de / 28.07.2016 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 9

Wundermittel Wirtschaftswachstum

Neue Publikation entzaubert einen Mythos

Dieter Janke
Das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes als Maß für Wohlstand ist heftig umstritten - und dennoch gängig.

Der Mythos vom Wachstum als Idealzustand einer gesunden Wirtschaft beherrscht nicht nur die Medien. Von ihm sind auch die akademische ökonomische Lehre genauso geprägt wie die Alltagsdebatten an den Stammtischen, wenn sie sich mit Fragen der Beschäftigung, des Wohlstandes oder dessen Verteilung beschäftigen. Und wie alle Mythen ist auch jener vom Wundermittel Wirtschaftswachstum äußerst zählebig. Zwar sind kritische Stimmen in den vergangenen Jahrzehnten immer deutlicher vernehmbar. Der Dominanz des Wachstumsfetischs scheinen sie jedoch kaum etwas anhaben zu können.

Aber woran misst sich eigentlich das Wachstum einer Wirtschaft? Was verband sich ehemals und verbindet sich derzeit mit dem Begriff Reichtum? Wird unser Verständnis von Wohlstand auch künftig noch Bestand haben? Sind die Ausdifferenzierung seiner Verteilung wie auch das daraus resultierende globale und soziale Konfliktpotenzial quasi unverrückbare Ereignisse? Und was ist mit der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen und den bereits erkennbaren Folgen grenzenlosen Wirtschaftswachstums?

Eine in leicht verständlicher Sprache verfasste neue Publikation von Jürgen Leibiger verschafft auch interessierten Laien Zugang zu diesen Debatten. Historisches und Begriffliches ergänzen sich, wenn der Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Sächsischen Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie in Dresden das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes als derzeit gängigen Maßstab für Wohlstand sowie dessen begrenzte Aussagefähigkeit erörtert. Seine Pervertierung erreicht jenes Verständnis, wenn der Reichtumszuwachs vor allem aus dem reinen Kreislauf des Geldes resultiert wie in den Zentren des Finanzkapitals. »Es geht nicht zuerst darum, die Produktionsleistung zu steigern, es geht nicht zuerst darum, mehr Güter für die Konsumtion zu produzieren, es geht nicht darum, bestimmte Regionen zu fördern oder Arbeitsplätze zu schaffen«, fasst dies Leibiger zusammen.

Entsprechend kritisch fallen seine analytischen Betrachtungen zu den Beschäftigungseffekten der Wachstumspolitik der vergangenen Jahrzehnte aus. Als quasi systemimmanente bzw. natürliche Wachstumsgrenzen benennt Leibiger die zahlungsfähige Nachfrage, die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen sowie die Bedürfnissättigung in den Industriestaaten. Angesichts des darin eingebetteten globalen und sozialen Konfliktpotenzials hält er »weitreichende Eingriffe in das bestehende Wirtschaftssystem« für unausweichlich.

Abgerundet wird der Band durch einen kritischen Überblick über die aktuellen wachstumskritischen Debatten sowie Ansätze nachhaltiger Wohlstandsdefinitionen.

Jürgen Leibiger: Wirtschaftswachstum. Mechanismen, Widersprüche und Grenzen, PapyRossa Verlag, Köln, 2016, 138 Seiten, 9,90 Euro.