Eine Frage der Ehre

MEINE SICHT

  • Lesedauer: 2 Min.

Zu praktisch jeder Tag- und Nachtzeit sah ich den kurdischstämmigen Nachbarn in dem Alte-Männer-Kulturvereinscafé rumhängen. Monat für Monat, Jahr für Jahr. »Warum bist Du immer hier?«, fragte ich ihn irgendwann. »Weil meine Frau zu Hause ist«, antwortete er. »Ich ertrage sie nicht. Sie ist eine Landpomeranze.« Sie wolle nur kochen, sich um die Kinder kümmern. Sie wolle nicht raus und er wolle sie sowieso nirgendwohin nehmen. »Die ist einfach nur peinlich mit ihrem Kopftuch.« Natürlich war es eine arrangierte Ehe. Die macht entgegen der landläufigen Meinung häufig nicht nur die beteiligten Frauen unglücklich, sondern auch die Männer.

Als patriarchale Bestimmer haben sie natürlich ganz andere Möglichkeiten. Zum Beispiel sich die Nächte in zweifelhaften Vereinscafés um die Ohren zu schlagen und das Geld in Spielautomaten zu versenken. Vielleicht findet sich sogar noch eine deutschstämmige Liebhaberin, mit der mitteleuropäische Beziehungsmodelle annähernd gelebt werden können. Aber selbst diese Männer mit ihrer starken Position schaffen es meist nicht, die Zwangsheirat zu verhindern. Zu groß ist der Druck, die Familienehre zu beschmutzen. Mütter, Väter, Onkels, Tanten und noch viel mehr Verwandtschaft redet im Zweifelsfall gut zu, manchmal auch von Gewalt unterstützt, den Wunsch der Altvorderen umzusetzen.

In punkto Ehre muss man auch als Barkeeper vorsichtig sein, so manchen Kreuzberger Türken dritter Generation auf dem falschen Fuß zu erwischen. Zum Beispiel mit dem Hinweis, dass noch die Bezahlung von Getränken aussteht. Da gibt es dann am Abend ein verbales Donnerwetter, dass man Schmarotzertum unterstelle. Am nächsten Tag zu einer stillen Stunde kommt die Person freundlich an den Tresen, zahlt den Deckel und entschuldigt sich für das Theater. »Ging nicht anders wegen der Ehre.« Aha. Es wäre schön, wenn es etwas weniger ehrenhaft zuginge.

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