nd-aktuell.de / 08.08.2016 / Kultur / Seite 16

Stern und schwärzliche Fahrt

Notizen aus Venedig

Gunnar Decker

Zweifellos ist dies eine Stadt der Kulissen. Die prächtigen Palazzi des Canal Grande sind nicht dazu geschaffen, um sie herumzugehen. Sie haben keine vorzeigbare Rückseite. Ein Hintergrund existiert für das repräsentative Bewusstsein nicht, alles ist nach vorn hin ausgerichtet, zum Zuschauer. Hinten arbeiten die Techniker und Bühnenarbeiter am Zauber des Deus ex Machina. Die Rückseiten, die Hintergründe, muss man sich selbst hinzudenken. Das macht Venedig zur Herausforderung. Man sieht immer nur die Seite, die im Lichte liegt. Die im Dunkeln - siehe Brecht - aber sieht man nicht. Nach diesem Prinzip ist Venedig konstruiert. Das weckt Expeditionsinstinkte bis heute.

Diese Notizen sollen keine Wohlgefühle erzeugen, Venedig-zum-Entspannen, Wellness-für-die-Seele muss man anderswo suchen - obwohl seltsamerweise sich gerade die Spezies des Selbsterbauungsreisenden immer häufiger hierher zu verirren scheint. Denen aber sei gesagt, Venedig ist nur insofern ein paradiesischer Ort, als er auch die Hölle ist! Wer wagt es, das Wort Ambiente auszusprechen? Soft ist vieles, Venedig niemals. Diese Stadt ist hart, die Tränen, die die Madonnen auf den Bildern der Venezianischen Schule weinen, sind aus Stein. Der Reiz Venedigs gründet auf Grausamkeit und Macht; Geld ist immer noch das, was den Alltag - hier stärker als anderswo - antreibt. Doch es hält Venedig schließlich auch über Wasser, so lange schon.

Hoffentlich pralle ich nicht einmal mit Elke Heidenreich an der Rialto-Brücke zusammen. Ihr edle Materialien großzügig verschwendendes, sehr vorsätzlich romantisches Buch »Die schöne Stille. Venedig, Stadt der Musik« bietet Venedig wie eine übervolle Pralinenschachtel dar. Wie schade, wenn die nun zu Boden fiele. Und das alles wegen »zu viel Himmel«, »an dem nun keine Geigen mehr hängen«. Nun ja, schon anderen klangen in Venedig die Ohren. Nietzsche mit seinem überempfindlichen Gehör philosophierte wie ein Komponist und postulierte, ohne Musik sei das Leben ein Irrtum. Wenn man diesem Satz einen Ort sucht, dann kommt man immer wieder hier an: »Wenn ich ein anderes Wort für Musik suche, so finde ich immer nur Venedig.« Aber ist es Zukunftsmusik oder Musik des Untergangs?

Nietzsche wusste, wenn er hierher kam, betrat er das Reich seiner Hassliebe Richard Wagner, der in späten Lebensjahren im Palazzo Vendramin residierte. Von ihm hatte er sich abgewandt, auch weil Nietzsche in dieser Musik immer mehr vorsätzlichen Effekt erkannte. Was dem Publikum an Wagner so gefalle, notiert er, das sei »zur Überredung der Massen erfunden, davor springt unsereins wie vor einem allzufrechen Affresco zurück«.

Die Stil-Unfähigkeit Wagners, so konstatiert Nietzsche ausgerechnet anhand der venezianischen Malerei um Tizian und Tintoretto, beruhe auf einem fatalen »Nicht-Festhalten-können einer bestimmten Optik«. Wagners Musik sei so unstet wie das Licht in Venedig. Aber stimmt das denn? Wie jeder wahrhaft schöpferische Geist widerspricht auch Nietzsche sich mindestens so oft selbst, wie das auch Wagner tat. Vor allem, so Nietzsche, sei Venedig eine »belebte Wüste« - und dieses Bild stimmt bis heute.

Wer sich über die unübersehbaren Aufsteller mit Ankündigungen von Vivaldi-Konzerten an allen Ecken der Stadt ärgert - ein standardisiertes Produkt des Massentourismus - der wird sich beim vom Band dezent eingespielten Vier-Jahreszeiten-Gesäusel nicht nur an Kaufhausmusik erinnert fühlen, ebenso an die Äußerung Strawinskys, der vermutete, Vivaldi habe das gleiche Konzert sechshundert Mal komponiert. Schreibe auch ich vielleicht den gleichen Venedig-Text fünfzig Mal? Und wer entscheidet darüber, ob dies eine notwendige, also produktive Anverwandlung ist, oder doch nur anhaltende Ratlosigkeit, um nicht gleich von Unvermögen zu sprechen?

Venedig beeindruckt durch seine Beharrlichkeit, mit der es sich gegen seinen lang prophezeiten Untergang stemmt. Bis etwas endgültig in der Vergangenheit versinkt, kann es lange dauern und schillert dabei auf unerwartete Weise. Musik soll Lust auf Liebe zu Venedig oder zu wem auch immer machen. Aber warum viel darum herumreden: Venedig war bei Selbstmördern zu allen Zeiten beliebter als bei Hochzeitsreisenden! Die Sterbehelferfunktion Venedigs muss man darum nicht gering schätzen. Der Tod ist, wenn es um Poesie geht, unbestechlich. »Alle verwunden, die letzte tötet.« Wer denn?, fragte Gottfried Benn vorsätzlich ahnungslos - und antwortete selbst: die Stunden.

Die sich sonst unseren Blicken entziehende Lebensuhr arbeitet hier in aller Öffentlichkeit: jeder Glockenschlag ein Memento mori, vom Markusdom bis zur Salutekirche. Denn Venedig ist trotz seines jederzeit fühlbaren Byzantinismus eine durch und durch barocke Stadt. Aber was heißt Byzantinismus, was meint »barocke Stadt«? Byzanz war das Zentrum der Ostkirche, der Mensch stand hier buchstäblich erstarrt in seiner Kleinheit vor Gottes Allmacht. Der byzantinische Goldgrund der Ikonen hob sich effektvoll vom milchigen Wasser der Lagune ab, aber besaß kein Bewusstsein des Werdens, kannte kein Blühen und Welken, kein Lieben und dennoch Sterben-Müssen. Da ist nur ewiges Sein in Gott. Im Barock ist das längst anders geworden. Barock ist Krisenbewusstsein. Lauter Totentänze - sogar der Karneval ist einer. Auch wir leben in einer Art Barock, wo etwas auf opulente Weise zu Ende geht und von der Zukunft nur klar scheint, dass sie anders werden wird. Das geht mit Angst einher.

In Venedig nun liegen beide kulturellen Schichten übereinander, der frühe Byzantinismus und der dramatische Barock mit seinen fabulösen Anwandlungen. Mitunter scheinen sie sich auch vor unseren Augen zu durchdringen. Da wird Venedig dann zum orientalischen Märchen, bei dem der, der es am Abend erzählt, am kommenden Morgen mit seiner Hinrichtung rechnen muss, wenn er nicht unterhaltsam genug war. Willkür liegt hier immer in der Luft.

Georg Trakl führte 1913 die einzige größere Reise seines kurzen Lebens nach Venedig. Doch er wohnte auf dem Lido und weigerte sich dorthin zu fahren, wohin es all die Touristen zog. Er schaute lieber aus der Distanz zum Markusplatz hinüber. So schrieb er sein Gedicht »In Venedig« als eine Art Innenansicht seiner selbst: »Reglos nachtet das Meer. / Stern und schwärzliche Fahrt / Entschwand am Kanal.«