Blöde Sprüche bei großer Leistung

Bei keiner anderen Sportart erhalten die Athleten so wenig Anerkennung wie beim Gehen

  • Felix Lill, Rio de Janeiro
  • Lesedauer: 4 Min.

Blöde Sprüche muss sich Jared Tallent oft anhören. »Als ich damit anfing, dachten viele Freunde, das sei ein Witz«, berichtet der Olympiasieger. Wie er es mit diesem Watschelgang so schnell über den Asphalt schaffe, das sei vielleicht bewundernswert, vor allem aber unterhaltsam. Ob er dringend aufs Klo müsse, wurde er schon gefragt. Ob er mit einem konstanten Wadenkrampf unterwegs sei. Wie seltsam seine Bewegungsabläufe doch aussähen. Beim Laufen trotzt der Mensch mit höchstmöglicher physikalischer Effizienz den Gesetzen der Natur. Von Tallents Sportart Gehen kann man das nicht behaupten.

Die 50-km-Strecke, auf der der 31-jährige Australier an diesem Freitag seine Goldmedaille von London 2012 verteidigen will, die er allerdings erst dieses Jahr aufgrund der positiven Nachprobe von Sergej Kirdjapkin zugesprochen bekam, ist der längste Laufwettbewerb Olympias. Viel zu oft wird Gehen belächelt, viel zu selten für die Leistungen gelobt, findet der Star der Szene. Denn selbst gute Amateurläufer sind nicht annähernd so schnell wie die Geher, die in Rio am Start sind. Sie erreichen Geschwindigkeiten von ungefähr 15 Kilometern pro Stunde, auf der 50-km-Strecke liegt der Weltrekord der Männer bei 3:32:33 Stunden, jener der Frauen bei 4:10:59. Fast jeder gut trainierte Ultramarathonläufer wäre bei so einer Zeit sehr stolz.

Dabei fällt auf, dass Gehen nicht von Kenianern und Äthiopiern dominiert wird. Meist sind es Chinesen, Europäer oder Lateinamerikaner, die vorne landen. Die Weltrekorde halten der Franzose Yohann Diniz und die Schwedin Monica Svensson. Im Starterfeld der Männer stehen sechs Chinesen, aber kein Afrikaner. Die Disziplin ist weder in Kenia noch in Äthiopien beliebt.

Zudem ist eine besondere Technik nötig, um bei den hohen Geschwindigkeiten nicht in die Luft abzuheben - was verboten ist. Dafür braucht es Spezialtrainer, von denen es in den Marathon- und Mittelstreckenhochburgen kaum einen gibt. Anderswo auf der Welt wiederum kommen viele Geher über Umwege zu ihrem Sport. Häufig haben sie sich zuerst in anderen Sportarten versucht, stiegen dann nach Ausmusterungen oder Verletzungen um.

Der Deutsche Leichtathletikverband führt zwar keine Statistik über die genaue Anzahl von Gehern, aber die jährlichen Bestenlisten schrumpfen seit Jahren. Zuletzt war es eine Handvoll Leistungssportler im ganzen Land. Über Nachwuchsmangel klagt man in mehreren Ländern seit Jahren. Dabei handelt es sich um einen Sport mit langer Tradition. Mit den Spielen von London 1908 wurde Gehen erstmals olympische Disziplin, damals mit je einer Strecke über 3500 Meter und einer über 16 Kilometer, zwischenzeitlich flog die Disziplin aus dem Programm. Seit den Spielen von Sydney 2000 besteht das aktuelle Format: je ein 20-km-Wettbewerb für Männer und Frauen und ein 50-km-Rennen für die Männer. Damit nicht geschummelt wird, warten an jedem Streckenabschnitt mit gelben und roten Kellen ausgestattete Schiedsrichter. Wer drei Ermahnungen erhält, kann gehen - beziehungsweise darf es nicht mehr.

Der Ursprung des sportlichen Gehens reicht viel weiter zurück, liegt irgendwann im 12. oder 13. Jahrhundert, als englische »Noblemen« in ihren Kutschen von den »Footmen« begleitet wurden. Teil des Unterhaltungswerts war es, möglichst schnell zu gehen ohne laufen zu müssen. Ein halbes Jahrtausend später wurde ein Wettkampf daraus. Ende des 18. Jahrhunderts, als im »British Empire« diverse Sportarten mit Regelwerken ausgestattet wurden, bekam auch das Gehen eins. Zentral dabei: Nie dürfen beide Füße gleichzeitig die Bodenhaftung verlieren.

Die erste Berühmtheit des Sports war der Schotte Robert Barclay Allardice, auch bekannt als Captain Barclay. Im Jahr 1809 wurde er zur Legende, als er in 1000 aufeinanderfolgenden Stunden je eine Meile zurücklegte, insgesamt also 1609 Kilometer schaffte. Spätestens dann wagte sich auch niemand mehr, dem Gehen seine athletische Dimension abzusprechen: Über die 42 Tage verlangsamten sich Captain Barclays Meilenzeiten von 15 auf 21 Minuten, sein Körpergewicht nahm von 84,5 auf 70 Kilo ab. Wie er schlief, ist nicht übermittelt. Aber er überlebte, und ließ sich das Projekt mit 1000-Goldmünzen bezahlen. Danach war Barclay Allardice ein reicher Mann.

Heute schaffen das die meisten Geher nicht, ihre Disziplin lässt sich schlecht vermarkten. Selbst der Goldmedaillengewinner aus London Jared Tallent und Weltrekordhalter Yohann Diniz sind keine Berühmtheiten. Diniz wird vom französischen Postkonzern La Poste gesponsert, auch Tallent hat lokale Unterstützer. Gehen sie aber die Straße entlang, erkennt sie kaum jemand.

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