Vitaminmangel? Hier?

  • Iris Rapoport, Boston und Berlin
  • Lesedauer: 3 Min.

Deutschland ist kein Vitaminmangelland, liest man allenthalben. Im Prinzip richtig. Aber da es schon ausreicht, wenn nur einer dieser lebensnotwendigen Stoffe fehlt, ist die Aussage problematisch. Denn mit Folsäure, einem B-Vitamin, ist die Mehrheit in Deutschland deutlich unterversorgt.

Schlimme Folgen kann das in der Schwangerschaft haben. Besonders in den ersten, meist unbemerkten Wochen, besteht die Gefahr verschiedenster Missbildungen. Als sogenannte Neuralrohrdefekte betreffen sie besonders häufig Rückenmark oder Gehirn.

Wie es dazu kommt und was die Folsäure dabei tut, ist noch nicht ganz klar. Immerhin weiß man, warum Folsäure generell unverzichtbar ist. Beim Stoffwechsel der Aminosäuren und bei der Synthese der DNA-Bausteine werden häufig einzelne Kohlenstoffatome benötigt. Da Folsäure diese transportieren kann, dient sie vielen Enzymen als Coenzym. Fehlt sie, wirkt sich das besonders bei den sich schnell vermehrenden Zellen Ungeborener und Heranwachsender negativ aus. Aber auch die blutbildenden Knochenmarkzellen Erwachsener müssen sich oft teilen. Und so ist Blutarmut eine zwangsläufige Folge von Folsäuremangel.

Auch wenn der Name vom lateinischen Folium (Blatt) abgeleitet ist, enthalten die Blattgemüse - wie viele andere Nahrungsmittel auch - meist nur geringe Mengen des Vitamins. Gute Quellen sind Hülsenfrüchte und Leber.

Leider ist Folsäure sehr licht-, hitze- und sauerstoffempfindlich. Da geht schnell einiges verloren. Zudem wird das Vitamin erst durch Verdauung für uns nutzbar. All das macht es schwer, auf die empfohlenen 0,3 Milligramm pro Tag zu kommen - so gering diese Menge scheinen mag.

Einst war Getreide eine wichtige Quelle. Das hat sich mit der industriellen Verarbeitung geändert. Da weltweit viele Grundnahrungsmittel aus solchem verarbeiteten Getreide bestehen, ist Folsäuremangel ein internationales Problem. Deshalb wurde die sogenannte Flour Fortification Initiative (Mehlanreicherungsinitiative) ins Leben gerufen. Die versucht nationale Gesetze durchzusetzen, die die Industrie verpflichten, die Verarbeitungsverluste durch Zusatz synthetischer Folsäure auszugleichen. Die synthetische Form hat zudem den Vorzug, auch ohne Verdauung resorbiert zu werden. Der Nachteil: Sie kann überdosiert werden. 85 Länder folgen der Initiative bereits. In den USA und Kanada wurde so die Häufigkeit von Neuralrohrdefekten beeindruckend verringert. Viele europäische Länder, auch Deutschland, haben sich der Initiative nicht angeschlossen. Und so ist Zahl von Neuralrohrdefekten bei Neugeborenen konstant hoch, wie eine im »British Medical Journal« (DOI: 10.1136/bmj.h5949) veröffentlichte Untersuchung zeigt.

Offensichtlich reichen Aufklärung der Bevölkerung und gelegentliche freiwillige Folsäurezusätze nicht aus. Die angebotenen angereicherten Produkte, wie das gelbe folsäurehaltige Kochsalz, werden zu wenig genutzt. Und wer sorgt vor einer Schwangerschaft durch Folsäurepräparate vor?

Bei Folsäure ist Deutschland sehr wohl Vitaminmangelland. Es wäre an der Zeit, das zu ändern.

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