Werbung

Was blinkt, verkauft sich besser

Eisenhüttenstadt, das ist EKO-Stahl? Höchste Zeit, sich neu zu erfinden - Teil 5 unserer Serie

  • Henry-Martin Klemt
  • Lesedauer: 6 Min.

Am Anfang war das Werk. Es sollte helfen, die Deutsche Demokratische Republik im Bereich der Metallurgie unabhängiger zu machen. Die Stadt, die an seiner Seite wuchs - zum Unmut des verträumten Mittelalterstädtchens Fürstenberg - war auf dem Reißbrett entstanden. Ein Ort, der den Bedürfnissen der Menschen entsprechen sollte. Leben und Arbeit als Einheit. Die Fremdheit der Menschen untereinander und sich selbst gegenüber sollte aufhören. Die Utopie sollte keine Utopie bleiben.

Am 18. August 1950 wurde der Grundstein für das Hüttenwerk gelegt. »Wir haben Werk und Stadt emporgezwungen / mit Armen, die noch matt vom Hunger waren, / mit Hirnen, ungeübt und unerfahren, / mit Herzen wund von Kriegserinnerungen«, schrieb Helmut Preißler. Auf der Baustelle traten die Dresdener Philharmonie und der russische Klaviervirtuose Dmitri Schostakowitsch vor den Arbeitern auf. Benannt wurde der Ort 1953 nach dem gerade verstorbenen »Vater des Weltproletariats«: Stalinstadt. Erst 1961 wurde er umbenannt in Eisenhüttenstadt. Der Volksmund sagt einfach: »Hütte«.

Karl Döring, 1985 bis 1990 Generaldirektor des VEB Bandstahlkombinat »Hermann Matern« Eisenhüttenstadt und später Vorstandsvorsitzender der EKO Stahl AG, zitiert in seinem profunden, mit Nüchternheit und Kompetenz verfassten Buch »EKO - Stahl für die DDR - Stahl für die Welt« eine Studie der Dortmunder Universität: »Das Überraschende an Eisenhüttenstadt ist die Qualität der Planung, die sich unter heutigen Bedingungen bewährt.« Es war aber nicht nur die vorausschauend realisierte Infrastruktur, die Eisenhüttenstadt prägte. Wer von Anbeginn dabei war, aus den ersten Baracken in eine der schönen Wohnungen zog, eine Familie gründete und seine Lebenspläne verwirklichte, war auch der Stadt in besonderer Weise verbunden. Das galt nicht minder für viele der Hinzugekommenen, die hier einen Neuanfang wagten. Stahlarbeiter zu sein, gar am Ofen gestanden zu haben, gilt etwas in Eisenhüttenstadt.

Von Döring sagt eine frühere EKO-Mitarbeiterin: »Er war keine anonyme Person am Schreibtisch. Die Leute kannten ihn. Er galt als streng und gerecht.« Unter seiner Leitung stieg die Stahlproduktion in den 80er Jahren auf 1 650 000 Tonnen. 1989 erreichte der Umsatz 11,2 Milliarden Mark. Für Döring war das EKO mit seinen nahezu 12 000 Beschäftigten aber »auch ein bedeutsamer sozialer und kultureller Mikrokosmos«. Es beherbergte zehn Küchen, eine Poliklinik und acht Sanitätsstellen, eine Bäderabteilung für Massagen. 23 künstlerische Zirkel, von der Keramikgruppe bis zum Kabarett gehörten dazu, Arbeitertheater und Betriebssportgemeinschaft. Aus dem Unterhaltungsensemble ging die Tanzshow »Fire and Flame« hervor, die heute noch auftritt. Und auch der Fotozirkel existiert als Verein weiter. Das Werk versorgte seine Mitarbeiter mit Theater- und Opernkarten für Berlin, Urlaubs- und Ferienlagerplätzen in eigenen Objekten zwischen Ostsee und Schlaubetal. Sozialvorsorge und kulturelles Engagement waren das erste, das nach 1989 im Zuge des gesellschaftlichen Wandels preisgegeben werden musste.

In der deutschen Stahllandschaft störte das EKO. Privatisierungsbemühungen wurden hintertrieben. Folgt man Dörings Dokumentation, spielte die Treuhandgesellschaft eine unrühmliche Rolle dabei. Währungsumstellung und der Umgang mit den sogenannten Altkrediten setzten auch das EKO unter Druck und erst recht die kommunalen Wohnungsunternehmen. Aber das Werk hatte Verteidiger nicht nur in der Chefetage. Während dort vor allem die Beziehungen nach Osteuropa für den Absatz intensiviert wurden, gingen die Stahlkocher auf die Straße. 6000 waren es am 12. Februar 1993. 7000 Eisenhüttenstädter beteiligten sich am 15. Dezember 1993 an einem Sternmarsch. »Die ganze Stadt war auf den Beinen«, erinnert sich Dagmar Püschel (LINKE), heute Bürgermeisterin von Eisenhüttenstadt. »Ministerpräsident Manfred Stolpe war vor Ort. Betriebsrat und Gewerkschaft machten mobil.« Während die eigene Belegschaft allmählich auf einen Bruchteil schrumpfte, wurden bis 1996 mehr als 40 Firmen ausgegründet, die vom EKO Starthilfe erhielten. So entstanden 2000 neue Arbeitsplätze.

Trotzdem gehört Eisenhüttenstadt zu den Städten, die nach 1990 einen Großteil ihrer Bevölkerung verloren. Von 50 000 Einwohnern sind 30 452 geblieben. »Aber zum ersten Mal sind die Daten besser als die Prognose«, erklärt Bürgermeisterin Püschel. Ganze Wohnviertel, die kaum länger als zehn Jahre gestanden hatten, wurden abgerissen. Dabei wurde an der Peripherie begonnen.

Die ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH - seit 2002 gehört die EKO Stahl GmbH mit ihrem belgischen Mutterhaus zur Arcelor-Gruppe (Sitz Luxemburg), die 2006 mit der Mittal-Gruppe (Indien, Sitz Rotterdam) fusionierte - bildet weiter den wirtschaftlichen Kern der Stadt. Eine Papierfabrik für 750 Millionen Euro ist hinzugekommen, aber den Nimbus, den Werk und Stadt besaßen, gibt es nicht mehr. »Wir haben keine goldene Kuh, die wir melken könnten«, sagt Püschel lachend. Auch die Inselhalle, vom Stahlwerk zum 50-jährigen Bestehen der Stadt erbaut, muss von der Kommune unterhalten werden. »Trotzdem ist Arcelor Mittal mit vielen gut bezahlten Arbeitsplätzen die Hauptschlagader der Stadt.«

Die Stadt kämpft mit ihren Schulden. Erst seit zwei Jahren gibt es wieder einen ausgeglichenen Haushalt. Im Zuge der geplanten Kreisreform hofft die Bürgermeisterin auf eine Teilentschuldung. Trotzdem wird der Wohnkomplex I nach der Sanierung weiter entwickelt. Der denkmalgeschützte Innenstadtbereich bildet im 21. Jahrhundert eine urbane Oase, die Vergangenheit und denkbare Zukunft gleichermaßen in sich birgt. Museum und Galerie wurden saniert. Die Bibliothek erhalten. Das Theater Friedrich Wolf konnte seine Kosten senken, die Besucherzahlen steigern. »Es gibt keinen Grund, etwas platt zu machen«, meint Dagmar Püschel.

12 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt es - allein 2800 bei ArcelorMittal, ebenso viele angegliederte Industriearbeitsplätze, 500 Menschen arbeiten im Städtischen Krankenhaus. 3000 Menschen haben ihren Job außerhalb. 6000 Einpendler gehen in Eisenhüttenstadt ihrer Beschäftigung nach. »Wir hoffen, dass sie in der nächsten Generation auch hier wohnen werden«, so Püschel. Der Zuzug übersteigt inzwischen den Wegzug. In den Ortsteilen nimmt die Einwohnerzahl zu. »Viele kommen aus dem Westen zurück, um hier ihre Familie zu gründen, trotz der damit verbundenen Einkommenseinbußen.« Längst werden keine Kitaplätze mehr abgebaut. »In zehn Jahren fehlen sie uns.« Wohnen, Bildung, Kultur, Sport - Eisenhüttenstadt ist bereit, sich neu zu erfinden. »Es lässt sich gut wohnen in einer grünen Stadt mit einer wundervollen Umgebung, am Schlaubetal und mit der Hauptstadt in der Nähe. Und gute Leute bringen gute Ideen mit.«

»Hütte« ist eine kleine Stadt, aber mit Superlativen. Nicht nur, weil hier einige der größten Industrieinvestitionen der Deutschen Demokratischen Republik realisiert wurden. Oder weil der Besuch von Tom Hanks den Tourismus angekurbelt hat. Oder weil der östlichste Hafen Deutschlands hier liegt, hinter einer Schleuse, um deren Ausbau noch gekämpft werden muss. Oder weil es kaum an einem anderen Ort so viel Kunst aus mehr als einem halben Jahrhundert im öffentlichen Raum gibt. Mehr als 100 Plastiken. Als zwei davon geklaut wurden, mussten sich die Diebe vor der Stadt entschuldigen. Oder weil mit dem Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR eine der umfangreichsten Geschichtssammlungen entstand. Auch die mit 30 Jahren älteste deutsch-deutsche Städtepartnerschaft - mit Saarlouis - wird in diesem Jahr gefeiert. Das Stadtfest Ende August, zu dem 150 000 Gäste erwartet werden, bietet Gelegenheit dazu. Eine Bürgerinitiative unterstützt neben zahlreichen anderen Sponsoren die Finanzierung. Dafür wird auch ein Schlüsselanhänger mit dem Signum der Stadt verkauft. Und Karl Döring wirbt dafür: »Sehen Sie: der blinkt. Was blinkt, verkauft sich besser.«

Bereits erschienen: Brandenburg/Havel, Wittenberge, Prenzlau, Hennigsdorf

Nächste Woche: Forst/Lausitz

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal