Am 24. August 1991 war es endlich soweit. Während der gescheiterte Augustputsch in Moskau erst ein paar Tage her war, sammelte sich das ukrainische Parlament in Kiew, um ein historisches Dokument zu verabschieden. »Wegen der Lebensgefahr, die die Ukraine nach dem Staatsstreich in der Sowjetunion bedroht, rufen wir die Unabhängigkeit der Ukraine aus«, hieß es in der Erklärung der Werchowna Rada, die ein entsprechendes Referendum am 1. Dezember vorsah. 90,3 Prozent stimmten schließlich für die Unabhängigkeit des Landes, der souveräne ukrainische Staat war damit geboren.
An diesem Mittwoch wird das zweitgrößte Land Europas also 25 Jahre alt. Vor allem in Kiew werden die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag gigantisch sein - trotz der angespannten Lage im Donbass, die sich seit Wochen verschlechtert. »Es ist ein großer Tag für unser Land und für alle Ukrainer«, sagt Präsident Petro Poroschenko, der wie in den vergangenen beiden Jahren eine Militärparade im Zentrum Kiews angeordnet hat. Diesmal ist sie richtig groß: 4000 Soldaten und 200 Militärfahrzeuge kamen in die Hauptstadt, um durch die Kiewer Prachtstraße Chreschtschatyk zu paradieren. Im Anschluss findet eine weitere Parade statt, der sogenannte »Marsch der Unbesiegten«. Daran werden vor allem Angehörige der gefallenen Soldaten, Ärzte und Freiwillige teilnehmen.
Die Art und Weise, wie Kiew und das verantwortliche Verteidigungsministerium sich auf den Unabhängigkeitstag vorbereiten, erinnert stark an russische Verhältnisse, wo die Militärparade am 9. Mai zu den wichtigsten Ritualen gehört. Mehrmals mussten die Schlüsselstraßen von Kiew wegen der Proben gesperrt werden - zum Ärger der Kommunalbehörden, die mit der Parade sowieso nicht glücklich sind. Die große Anzahl der Militärfahrzeuge könne tödlich für die Straßen der Stadt werden, heißt es. Viele sehen solche Aktionen aber auch generell skeptisch und meinen, dass es im Moment nichts zu feiern gebe.
»Wozu brauchen wir diese Parade?«, fragt etwa der Militärjournalist Roman Botschkala. »Ich würde es bevorzugen, unsere Militärtechnik im Donbass und auf der Krim zu sehen. Müssen wir denn jemandem etwas mit Waffen in Kiew beweisen?«, äußert Botschkala eine unter den Ukrainern beliebte Meinung. Präsident Poroschenko und Verteidigungsminister Stepan Poltorak verteidigen jedoch ihre Entscheidung: Es sei vor allem für Soldaten, die an der Front kämpfen, sehr wichtig, vor den großen Menschenmengen am Mittwoch aufzutreten. »Sie haben es verdient; im Donbass schützen sie jeden Tag unser Land«, so Poltorak.
Doch Parade hin oder her, dieser Unabhängigkeitstag hat für die Ukraine durchaus Bedeutung. Es ist zwar nicht so, als ob diese 25 Jahre für das Land wirklich erfolgreich gewesen wären. Erst musste man die schwierigen 90er Jahre mit ihrer großen Finanzkrise überstehen, dann kam die »Orange Revolution« von 2004, schließlich die zweite »Maidan-Revolution« 2014, danach die Annexion der Krim durch Russland und der Donbass-Krieg. Und trotzdem ist es der Ukraine zum ersten Mal in ihrer Geschichte gelungen, ihre Souveränität zu erhalten. Nur scheint sie gerade illusorischer denn je. Trotz ihrer Größe hat es das Land nicht geschafft, eine funktionierende Wirtschaft aufzubauen.
Wenn der russische Markt quasi verschlossen bleibt, ist Kiew fast ausschließlich von der westlichen Finanzhilfe abhängig. Sonst würde ein noch viel größerer Kollaps drohen. Hinzu kommt: »Russischer Einfluss in der Innenpolitik ist zwar kleiner als früher, russischer Druck von außen aber viel größer«, sagt der Politologe Kost Bondarenko. »Die Abhängigkeit vom Westen ist zudem ganz offensichtlich - nicht die beste Ausgangslage für die nächsten Jahre.«
Gleichzeitig wackelt die angestrebte europäische Zukunft der Ukraine gewaltig. Nach dem negativen Ausgang des Referendums in den Niederlanden kann das Assoziierungsabkommen mit der EU doch noch scheitern. Und die Aufhebung der Visumpflicht, die vor Monaten als sicher schien, wird mittlerweile auch in Frage gestellt. »Es ist davon auszugehen, dass eine positive Entscheidung in den nächsten Wochen getroffen wird«, sagt Präsident Poroschenko zwar optimistisch. Wirklich rosig sieht es aber nicht aus. Obwohl die Ukraine alle Bedingungen erfüllte, scheint die EU nicht bereit zu sein, diesen Prozess nun zu beschleunigen. Die von Kiew erhoffte Aufhebung der Visumpflicht dürfte frühestens im Januar in Kraft treten, ist aus Brüssel zu hören.
Bei einem Durchschnittsgehalt von umgerechnet 150 Euro sind Reisen ins EU-Ausland aber nicht das Thema, das die Menschen in der Ukraine am meisten beschäftigt. Viel mehr ist das die immer noch katastrophale Lage der Wirtschaft. »Ökonomisch haben wir einfach zwei Jahre verloren. Es gibt keine echte Steuerreform, die Voraussetzungen für Unternehmer bleiben sehr schlecht«, sagt der Wirtschaftsexperte Olexander Ochrimenko. »Wir sollen zwar im Vorjahr den Tiefpunkt erreicht haben. Doch durch alle Verluste brauchen wir Jahrzehnte, um auf das Niveau von 2013 zurückzukommen«, betont Ochrimenko. Auch durch den Absturz der nationalen Währung Hrywnja sind die Ukrainer ärmer geworden, zumal die Arbeitslosigkeit deutlich zunimmt.
Auf der politischen Ebene ist ein ähnliches Bild zu beobachten. Die im Herbst 2014 gewählte Werchowna Rada arbeitet nicht effektiv, die vorgezogenen Parlamentswahlen sind immer noch ein Thema, vielleicht 2017. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass sie die politische Landschaft positiv verändern könnten. Auch die Arbeit der neuen Regierung von Wolodymyr Grojsman, der Arsenij Jazenjuk als Premier ersetzte, wird kritisch gesehen. Ihm wird vor allem vorgeworfen, keine ernsthaften Reformen durchführen zu wollen - und zu nah am Präsidenten zu sein.
Also nicht die besten Aussichten, mit denen die Ukraine ihren 25. Ge-burtstag feiert. Petro Poroschenko versucht dennoch, vor Optimismus zu strahlen: »Die Ukraine kämpft für ihre europäischen Ideale, unsere Armee verteidigt die Außengrenzen Europas. Gerade heute führen wir unseren richtigen Kampf für die Unabhängigkeit«, sagt der Präsident. Der Weg zur wahren Unabhängigkeit dürfte für die Ukraine allerdings noch lang werden.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1023173.wozu-brauchen-wir-diese-parade.html