nd-aktuell.de / 26.08.2016 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 3

»Wir zählen keine Stunden«

In den andalusischen Gewächshäusern schuften Migranten, eine Basisgewerkschaft will für ihre Rechte kämpfen

Josephine Schulz, Almeria

»Das hier ist nicht Europa«, sagt Fayyad*. »Das ist wie Afrika, oder schlimmer.« Der junge Marokkaner steht in bunten Shorts vor seinem Haus, kneift die Augen zusammen und starrt in die brennende Mittagssonne. Sein Haus ist ein Verschlag aus Plastikplanen, Stöcken und Palmenblättern. Seit etwa zwei Wochen lebt er hier, am Rande einer staubigen Straße, gemeinsam mit etwa hundert anderen Migranten, auf der Suche nach Arbeit im »Mar del Plastico«. Dieses Plastikmeer zieht sich in der Region um die südspanische Küstenstadt Almeria über rund 35 000 Hektar. Schätzungen zufolge arbeiten bis zu 80 000 Menschen unter prekärsten Bedingungen in den Gewächshäusern, aus denen rund 25 Prozent des in Nord- und Mitteleuropa konsumierten Gemüses kommen.

Fayyad kam mit einem Touristenvisum nach Spanien. Der einjährige Sohn und seine Frau warten in Marokko auf Geld. Doch der Anfang Zwanzigjährige findet im Plastikmeer keine Arbeit, und auch sein Visum ist abgelaufen. Zahlreiche Gewächshäuser um Almeria sind zurzeit leer, die Ernte ist vorbei und die Produzenten brauchen nur wenige Arbeiter. Was Fayyad als Schock erlebte, ist für Tausende anderer Migranten seit Jahren oder Jahrzehnten Alltag. Über dreitausend von ihnen leben in sogenannten Chabolas, improvisierten Zelt- und Hüttensiedlungen zwischen den Gewächshäusern. Oft gibt es dort weder Wasser noch Elektrizität. In der Siedlung von Fayyad klinkt man sich illegal ins Stromnetz ein, das Wasser beschaffen sich die Bewohner aus den Gewächshäusern. Viele der dort Lebenden haben keine Papiere und hätten deshalb große Probleme, in den Städten an eine Wohnung zu kommen. Andere leben »freiwillig« in Chabolas, um das Geld für ihre Familien zu sparen oder um näher an den Gewächshäusern zu wohnen. In den Städten und Dörfern hat sich ein Schwarzmarkt um die Unterbringung der Migranten gebildet. Bis zu 20 Menschen werden von Vermietern in ein Zimmer oder eine Scheune gepfercht, zahlen für ihre Matratze etwa 80 Euro im Monat.

An diesem Vormittag bekommen die Bewohner der Chabola seltenen Besuch. Der Gewerkschafter Spitou Mendy wirbelt Staub auf, als er mit seinem kleinen Auto auf dem Platz zwischen den Hütten zum Stehen kommt. Mendy arbeitet bei der SAT (Sindicato Andaluz de Trabajadores), einer Basisgewerkschaft, die sich zum Ziel gesetzt hat, gegen die Ausbeutung der Arbeiter in den Gewächshäusern - über 90 Prozent davon Migranten - zu kämpfen. Etwa 80 Prozent der Arbeiter kommen aus Marokko, die anderen aus der Subsahara, Osteuropa oder Südamerika. »Die großen Gewerkschaften interessieren sich nicht für sie«, sagt Mendy. Von den Comisiones Obreras (Arbeiterkommissionen) oder der Unión general de trabajadores (Allgemeine Arbeiterunion) sehe er in dieser Region nie jemanden. Mendy und seine Kollegen müssen täglich Überzeugungsarbeit leisten. Denn trotz der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen tun sich die meisten schwer, Missstände öffentlich zu anzuzeigen.

»Was habe ich davon?«, fragt ein Arbeiter Mendy, der kurz nach dem Gewerkschafter auf einem verrosteten Fahrrad in die Chabola gefahren ist. »Wer bezahlt mich, wenn ich meinen Job verliere, du etwa?« Auch andere kommen auf ihren Fahrrädern dazu, solche, die noch Arbeit haben und aus den Gewächshäusern zur Mittagspause kommen. Die Menschen ohne Papiere hätten oft Angst den Bus zu nutzen, erklärt Mendy. Außerdem zahlten die Arbeitgeber keine Bustickets. »Aber mit den Fahrrädern auf den Schnellstraßen gibt es ständig Unfälle.«

Die Männer reichen dem Gewerkschafter ihre Gehaltszettel. Etwa 800 bis 900 Euro erhalten die meisten unterm Strich. Der aufgeführte Stundenlohn entspricht in der Regel dem Mindestlohn von 5,80 pro Stunde oder liegt sogar darüber. Mit der Realität hat das jedoch wenig zu tun. Ein Arbeiter zeigt auf die Spalte, in der die Arbeitszeit aufgeführt ist. 20 Tage steht dort, gearbeitet habe er aber dreißig und weit mehr als acht Stunden am Tag. Ihr müsst diese Dinge anzeigen, sagt Mendy. Er wird laut während er das sagt und greift einem der Arbeiter fest an den Arm. Ein anderer erzählt, er warte seit Monaten auf seinen Lohn. Dennoch wollen die Arbeiter nichts sagen. Mendy schüttelt wütend den Kopf. Aber Verträge gibt es in der Branche wenn überhaupt nur für einige Monate, die Produzenten kennen sich und auch viele der Arbeiter. Wer sich beschwert, bekommt unter Umständen in der nächsten Saison keine Arbeit.

Nach etwa einer Stunde verlässt Mendy die Zeltstadt. »Sie haben Angst«, sagt er. »Ich verstehe das. Aber so lässt sich keine effektive Gewerkschaftsarbeit organisieren.« Oft passiere es, dass er bereits die Papiere für eine Beschwerde vorbereitet habe, dann ruderten die Leute zurück. »Unsere Ressourcen als Gewerkschaft sind sehr begrenzt. Wir bekommen keine Subventionen vom Staat wie die großen Gewerkschaften, die sich mit jeder Regierung an den Tisch setzen.«

Die SAT lädt regelmäßig zu Versammlungen in den Migrantensiedlungen. Außerdem bieten Mendy und seine Kollegen arbeitsrechtliche Beratungen in verschiedenen Sprachen an sowie Spanischkurse für die Migranten. »Wenn Leute interessiert sind, bilden wir sie aus.«, erklärt der Gewerkschafter. »Aber es ist schwer, sie bei der Stange zu halten.« Man versuche vor allem junge Arbeiter zu Multiplikatoren auszubilden. »Wir schulen sie drei Jahre, versuchen sie an die Gewerkschaft zu binden, aber sobald sie Papiere haben oder die Hoffnung auf bessere Arbeit, gehen die meisten weg, nach Barcelona, Madrid oder Frankreich.« Die SAT kann daher kaum mit festen Beiträgen planen, denn der Mitgliederstamm wechselt ständig.

Mit dem kleinen kaputten Auto des Gewerkschafters geht es an der Küstenstraße entlang nach El Ejido, der Plastikhochburg in der Region. Mendy spricht von einem »Ort ohne Gesetz«. Im Büro der SAT löst ihn José, ein Mitstreiter, ab. Kämpferische Plakate hängen an den Wänden, Bilder von Che Guevara und anderen Revolutionären. Ihre Radikalität hat die SAT bekannt gemacht, auch außerhalb von Spanien. Vor drei Jahren schrieb die internationale Presse über Supermarktplünderungen durch die Gewerkschafter, die Wagen voller Schulmaterialien aus den Discountern fuhren, ohne sie zu bezahlen, und an Bedürftige verteilten. Und immer wieder besetzten die Mitglieder der Basisgewerkschaft in den vergangenen Jahren Fincas, öffentliche Gebäude und Fabriken in Andalusien. Die Regierung antwortete mit einer Welle von Repressionen gegen Aktivisten und SAT in Form von Festnahmen und hohen Bußgeldern. Weit über 500 Mitglieder der SAT wurden bisher verurteilt, insgesamt sitzt die Gewerkschaft auf fast eine Million Euro Schulden.

Mit José geht es zurück ins Plastikmeer. Auf einem Hügel stoppt er den Wagen und deutet auf die Landschaft. »Dieser Blick zeigt das ganze Dilemma von Andalusien«, sagt er. Auf der einen Seite reihen sich Golfplätze an Pools und Ferienwohnungsanlagen. Die meisten davon stehen leer. Direkt daneben beginnt das Plastikmeer. »Ich dachte schon vor zehn Jahren, dass hier kein Platz für weitere Gewächshäuser ist«, erzählt José, der selbst vor vielen Jahren aus Ecuador nach Andalusien kam und in den Gewächshäusern schuften musste. »Jetzt tragen sie sogar die Berge ab, um Platz zu gewinnen.«

Die ersten Gewächshäuser wurden in der Region in den 80er Jahren gebaut. Mit dem Platzen der Immobilienblase verschärfte sich die Situation. Vorher arbeiteten viele Migranten im Bausektor. Sie waren die ersten, die die Krise zu spüren bekamen und entlassen wurden. Migranten - ebenso wie Unternehmer aus der Immobilienwirtschaft - drängten in die Landwirtschaft. Besonders für Menschen ohne Papiere wurde es schwierig. Angesichts der größeren Auswahl zogen Unternehmer legale Arbeiter vor oder ersetzten Papierlose durch Rumänen und Bulgaren. So sank die Zahl der Papierlosen in den Gewächshäusern nach der Krise zunächst. Für die Gewerkschafter der SAT macht das jedoch kaum einen Unterschied. Immer wieder betonen sie, dass Migranten mit Papieren und solche ohne dasselbe Schicksal teilten.

Auf engen Sandwegen fährt José durch das weiße Plastiklabyrinth. Direkt an ein großes Gewächshaus grenzt die nächste Migrantensiedlung. Ein gut gelaunter, älterer Marokkaner begrüßt den Besuch. »Viel zu lange«, antwortet er auf die Frage, wie viele Jahre er schon in den Gewächshäusern arbeite. Immer wieder muss er das Gespräch mit José für einige Minuten unterbrechen, weil andere Arbeiter ihm auf die Schulter klopfen und nach Brot, Milch oder Käse fragen. Dann eilt er in seine Hütte, wo er für die Bewohner der Siedlung einen kleinen Laden eingerichtet hat. Über seine Chefs will er nicht meckern. »Die sind in Ordnung, mit denen lässt sich reden.« Bei anderen wüsste man von vornherein, dass man elf Stunden am Tag arbeiten müsse. »Aber Stunden zählen wir hier sowieso nicht«, sagt er und lacht. Manche Chefs würden auch zahlen, wenn man krank sei, andere nicht. Zwar gibt es in Spanien ein allgemeines Sozialversicherungssystem, um Anspruch auf Zahlungen zu haben, muss man allerdings ein volles Jahr oder drei Ernteperioden in Folge gearbeitet haben - und das hat aufgrund der kurzen Verträge kaum jemand.

Ein anderer Arbeiter aus Mali stellt sich dazu. »Ich pfeife auf Gewerkschaften«, sagt er. »30 Euro habe ich jeden Monat an die Comisiones Oberas gezahlt. Für nichts.« Er dreht sich um und geht einige Schritte auf einen parkenden LKW zu. Im Fahrerhäuschen sitzt ein Gewächshausbesitzer und wartet. Ein Kleinunternehmer, der in die Siedlung gekommen ist, um Arbeiter für eine Tagesschicht einzusammeln. »Dir sollte man den Mund zunähen, du redest zu viel«, fährt er den Arbeiter aus Mali an. »So jemand bekommt bei mir keine Arbeit.« Und an den Gewerkschafter José gewandt, klagt er über die Situation der kleineren Produzenten. Centbeträge bekomme er für ein Kilo seiner Tomaten. Und auf die Preise habe er keinerlei Einfluss. »Da kommt jemand und sagt dir, wieviel du heute für dein Kilo bekommst, und du kannst nichts dagegen machen.« Den Gewinn machten allein die Supermärkte in ganz Europa.

Auf dem Rückweg zum Büro der SAT zeigt José auf ein Stück Wiese neben einem Kreisverkehr. Dort stehen etwa zehn Afrikaner. Tagelöhner-Strich werden solche Spots genannt, an denen Arbeiter ohne festen Vertrag, solche wie Fayyad oder andere Männer aus seiner Siedlung, darauf warten, am frühen Morgen von einem Unternehmer eingesammelt zu werden, für einen Erntetag. Ein moderner Sklavenmarkt an der Grenze Europas.

* Name geändert