Andere Sorgen als die Wahl
Obdachlose dürfen an der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin teilnehmen
Als Kofi Buari hört, dass er wählen darf, werden seine Augen groß: »Das ist neu«, sagt er staunend, lehnt sich zurück und schaut nachdenklich über den Mehringplatz. Er ist 62 Jahre alt, 1986 aus Ghana nach Berlin gekommen und hat noch nie einen Stimmzettel gesehen. Buari hat keine feste Adresse. Er gehört zu den mindestens 11 000 Menschen, die in Berlin laut Schätzungen der Senatsverwaltung obdachlos sind. Und Obdachlose können nicht wählen, dachte Buari bisher.
Doch das stimmt nicht. »Auch Wohnungslose können ihre Stimme abgeben«, erklärt die Landeswahlleiterin Petra Michaelis-Merzbach - wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft nachweisen können. »Mein Anliegen ist es, dass alle Wahlberechtigten in Berlin auch über dieses Recht Bescheid wissen«, sagt die Wahlleiterin. Deshalb kooperiert sie mit der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, die das Thema unter anderem an die Redaktionen von Obdachlosenzeitschriften wie der »Motz« und dem »Straßenfeger« weitervermitteln soll, um die Betroffenen auch auf diesem Weg über ihr Wahlrecht zu informieren.
Bisher ist der Erfolg dieser Initiative eher mäßig. Bis zum 31. August hatten 37 »Personen ohne festen Wohnsitz« ihre Stimme abgegeben, 2011 meldeten sich insgesamt gerade einmal 46 Obdachlose. Hört man sich auf der Straße um, dann hat das vor allem zwei Gründe: Die einen, so wie Buari, wissen noch immer nicht, dass sie wählen dürfen. Die anderen schrecken vor den bürokratischen Hürden zurück. Wer keinen Wohnsitz hat, der bekommt keine Wahlbenachrichtigung. Das heißt: Obdachlose müssen sich selbst beim Wahlamt melden und dort eidesstattlich versichern, dass sie seit mindestens drei Monaten in Berlin leben und in keinem anderen deutschen Melderegister stehen. Das müssen sie bis Freitag, den 2. September, erledigt haben. Welches Wahlamt zuständig ist, das entscheidet sich dabei auf nahezu skurrile Art. Es gilt das Amt des Bezirks, in dem die betroffene Person in der Nacht vom 13. auf den 14. August, dem Tag der Erstellung des Wählerverzeichnisses, übernachtet hat. Auch das muss eidesstattlich erklärt werden.
Für Maik Wegbrodt, der die Passanten auf der Weidendammer Brücke um eine kleine Spende bittet, während er mit den Cent-Münzen in seinem Pappbecher klimpert, klingt das kompliziert - wie immer, wenn er mit Beamten zu tun hat. »Woher soll ich wissen, wo ich vor zwei Wochen gepennt habe?«, fragt er entnervt.
Er werde von der Polizei alle paar Tage vertrieben, schlafe also mal in Mitte, mal in Köpenick. Im Zweifelsfall könne er im Wahlbezirksamt natürlich lügen, aber wozu? Seit Anfang der 1990er-Jahre lebt er auf der Straße, gewählt hat er seitdem nie wieder. Es gebe ja ohnehin keine Partei, die sich für die Obdachlosen einsetze. Und auch wenn er wählen wollte: Seinen Lichtbildausweis hat er verloren, und auch den bräuchte er zur Registrierung.
Petra Michaelis-Merzbach sind diese praktischen Probleme bekannt, aber alles was sie tun könne, sei, die Leute bestmöglich über die Rechtslage zu informieren. »Am Ende müssen die Menschen selbst die Initiative ergreifen«, sagt sie. Die 46-Jährige Jasmin Peissert, die an der Bergmannstraße campiert, kann über solche Aussagen nur den Kopf schütteln. Sie stützt ihren betrunkenen Freund, der neben ihr von der Parkbank zu fallen droht. »Schau den an«, sagt sie, »der hat ganz andere Sorgen als die Wahl«. Wo man als nächstes etwas zu essen bekomme, wo man abends schlafen könne, das seien die Fragen des Alltags für Menschen wie sie und ihren Freund, nicht, welche Partei man wähle. Man müsse die Leute erst einmal von der Straße kriegen, dann könne man anfangen, über Politik zu reden.
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