Gänsehaut im Olympiastadion

Beim Berliner ISTAF gehen allein zwei der vier Gastgebersiege an die Speerwerfer

  • Klaus Weise
  • Lesedauer: 4 Min.

Das 75. Internationale Stadionfest am Sonnabend im Berliner Olympiastadion kann man durchaus als gelungen bezeichnen. Terminlich lag das weltweit älteste und zuschauerstärkste Leichathletikmeeting so kurz hinter Rio trefflich. Die Besetzung konnte sich sehen lassen, und das Wetter präsentierte sich von seiner Sahneseite. 44 500 Zuschauer wollten dabei sein, wenn 14 Medaillengewinner von Rio, davon allein sieben Olympiasieger und zehn Europameister vom Juli in Amsterdam ihre Visitenkarten abgeben. Angesichts manch anderer schwach besuchter Veranstaltung ein durchaus hoffnungsvolles Versprechen für die EM im August 2018, die an gleicher Stätte stattfinden wird.

Große Namen der Branche gab es in der Arena im Dutzend zu erleben, und die waren durchaus mitgerissen von Stimmung und Atmosphäre im Riesenrund. Auch, wenn sie - Stress und Müdigkeit am Ende der Saison sowie Stärke der Konkurrenz geschuldet - nicht immer gewannen. Stark präsentierten sich beide Olympiasieger über 800 Meter, Caster Semenya (Südafrika/1:55,68 min) und David Rudisha (Kenia/1:43,31), die in Stil und Zeit ihre Königsrolle unterstrichen.

Auch Michelle Carter bestätigte ihren Olympiasieg im Kugelstoßen. Brasiliens Stabhochspringer Thiago Braz da Silva musste dagegen mit Rang zwei, Weitspringerin Tianna Bartoletta (USA) mit Bronze, die beiden goldenen Speerwurfasse von Rio Sara Kolak (Kroatien) und Thomas Röhler (Jena) jeweils mit Platz 4 vorlieb nehmen. Aus Gastgebersicht war das zu verschmerzen. Denn dank Christina Obergföll, die mit 35 Jahren nach WM-Gold 2013, Olympia-Bronze 2008 und Silber 2012 mit starken 64,28 Metern einen perfekten Abschied vom Spitzensport feierte, und gleich vier DLV-Werfern an der Spitze des Wettkampfes der Männer, gab es zwei Resultate, die in ihrer Güte zu den herausragenden des ISTAF gehörten. Christina Obergföll genoss das ISTAF sicht- und spürbar Sekunde für Sekunde, ohne Tränen ging da am Ende nichts mehr.

»Echt geil«, »superglücklich«, »wahnsinnig bewegend«, sie suchte nach Worten, mit denen die Emotionen fassbar sind. Als sie im Wettkampf ein paar Knie- und Fußprobleme bekam, habe sie nur noch gedacht, »scheiß drauf!, genieß es! und es hat geklappt«. Jetzt beginne das Leben nach dem Sport, der kleine, zwei Jahre alte Sohnemann bekomme nun die ganze Aufmerksamkeit. Vielleicht wird er ja mal »einer« im Sport »er wirft schon mit allen möglichen Gegenständen, mit Speeren aber noch nicht«. Natürlich werde sie den Sport und seine Herausforderungen vermissen, »das war eine sensationelle Zeit über all die Jahre hinweg«.

Was die Speerwurfmänner angeht, durfte sich Christina Obergeföll gleich nach ihrem ISTAF-Abschied davon überzeugen, »dass mir um die deutsche Werferzukunft nicht bange sein muss - was da momentan passiert, ist der absolute Hammer«. Es gebe da so viele starke Jungs, und das mache sie auch stolz auf die Arbeit ihres Mannes Boris Henry, der Bundestrainer dieser Sparte ist.

Stolz, der ohne Zweifel angebracht ist. Das Speerwerfen der Männer, erstmals seit 2003 wieder im Programm des Sportfestes, bewies, dass die Disziplin derzeit vielleicht das Aushängeschild der gesamten deutschen Leichtathletik ist. Mit dem erst 24-jährigen Thomas Röhler aus Jena, einstmals Dreispringer, hat sie den grandiosen Olympiasieger in ihren Reihen - und der wird beim ISTAF mit keineswegs enttäuschender Leistung nur national Vierter. Weil die drei, die im Ergebnisprotokoll vor ihm standen - Johannes Vetter (89,57 m), Julian Weber (88,29) und Andreas Hofmann (85,42) - persönliche bzw. Saisonbestleitungen erzielten. Das Publikum kam aus den spontanen Beifallsstürmen nach den 80-Meter-Würfen in Serie (15 vom deutschen Quartett) gar nicht heraus. Das führte zu einem nicht unbedingt alltäglichen Erlebnis: eine halbe Stadionrunde der vier deutschen Werfer mit schwarz-rot-goldenen Fahnen vor La Ola-Wellen auf den Tribünen und einem imitierten Start im Rücken der 800-Meter-Finalisten um Kenias Olympiasieger David Rudisha, der freilich nach 100 Metern beendet wurde. »Schuster bleib bei deinen Leisten«, lachte Johannes Vetter, der in Rio noch Vierter geworden war.

Angesichts der aktuell heftig diskutierten Strukturreform des deutschen Leistungssports könnte das Speerwerfen durchaus als Anschauungsbeispiel dienen. Denn die vier Spitzenmänner sind jeder für sich ganz eigene Charaktere, gehen auch eigene Trainingswege und folgen nicht nur einem Muster. »Das schließt natürlich nicht aus, dass man sich trainingsmethodisch hilft, gegenseitige Impulse setzt. Konkurrenz belebt das Geschäft, aber jeder gönnt dem anderen auch den Erfolg«, gab Thomas Röhler hinterher zum besten. »Das Olympiastadion war geil, hat Gänsehaut gemacht.«

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