Streit um Bayerns Auslesepolitik

Experte: Grundschulabitur verstößt gegen Verfassung

  • Lesedauer: 3 Min.

München. Mit den strengen Vorschriften für einen Wechsel von der Grundschule auf das Gymnasium verstößt Bayerns Staatsregierung nach Ansicht eines Gutachters gegen die Verfassung. »Die Entscheidung über den Bildungsweg des Kindes liegt eindeutig bei den Eltern«, sagte der Autor des Gutachtens, der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Bildungsforschung und Bildungsrecht der Universität Bochum, Wolfram Cremer, am Dienstag in München. In Auftrag gegeben hatte die Studie die SPD-Landtagsfraktion.

»Die (...) Einschränkung dieses Rechts (...) unter dem Etikett einer Auslese nach Leistung ist unter keinem Gesichtspunkt verfassungsrechtlich gerechtfertigt«, heißt es wörtlich in dem Gutachten. Cremer stützt seine Argumentation unter anderem auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes.

Die Karlsruher Richter hatten 1972 erklärt, dass das Bestimmungsrecht der Eltern auch die Befugnis umfasse, den Bildungsweg des eigenen Kindes frei zu wählen: »Dabei wird sogar die Möglichkeit in Kauf genommen, dass das Kind durch einen Entschluss der Eltern Nachteile erleidet, die im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben betriebenen Begabtenauslese vielleicht vermieden werden könnten.«

In Bayern würden daher die bestehenden Notenvorgaben und Vorgaben bei der Auswahl der weiterführenden Schulen, das sogenannte Grundschulabitur, gegen die Grundrechte der Eltern in der Landesverfassung (Art. 126 Abs. 1) und im Grundgesetz (Art. 6 Abs. 2 S. 1) verstoßen. Bayern ist neben Thüringen und Sachsen das einzige Bundesland, das noch an der Praxis festhält. In den anderen Bundesländern haben die Übertrittsgutachten inzwischen nur noch empfehlenden Charakter. »Vor fünf Jahren war dies noch in der Hälfte der Bundesländer verbindlich«, sagte Cremer.

Das Kultusministerium teilte umgehend mit, dass es auch nach dem Gutachten keinen Grund zur Handlung sieht. »Das bayerische Übertrittsverfahren von 2009 ist verfassungskonform«, sagte ein Sprecher. Dies habe der Bayerische Verfassungsgerichtshof 2014 entschieden. Mit der Einführung der kind- und begabungsgerechten Übertrittsphase sei der Elternwille 2009 gestärkt worden. »Die Entscheidung für den Übertritt des Kindes an Gymnasium oder Realschule liegt mittlerweile bei den Eltern, wenn die Kinder im Probeunterricht an der angestrebten Schule in den Fächern Mathematik und Deutsch jeweils die Note 4 erreicht haben.« Bis 2009 mussten die Schüler zumindest in einem der beiden Fächer die Note 3 erreichen.

Der SPD geht das nicht weit genug. Martin Güll, Vorsitzender des Bildungsausschusses des Landtags, will das Grundschulabitur deshalb möglichst schnell abschaffen. »Das Grundschulabitur sorgt für unfassbaren Stress in den Familien. Das Ergebnis lautet: Lernen in ständiger Angst, statt Freude am Unterricht«, betonte er.

Güll geht davon aus, dass nun viele Eltern bei Bedarf auch rechtlich gegen die gängige Praxis vorgehen würden. Laut Cremer dürften sie dabei wegen der im Gutachten genannten Argumente gute Chancen haben. Möglich sei sowohl erneut eine Klage vor dem Bayerischen Verfassungsgericht als auch der Gang zu einem Fach- und Verwaltungsgericht sowie in letzter Konsequenz gar vor das Bundesverfassungsgericht, da auch das Grundgesetz verletzt werde.

Zudem zeigten wissenschaftliche Studien, so Cremer, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien bei gleichen Testleistungen eine deutlich geringere Chance haben, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu erhalten. dpa/nd

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