Trancezustände wildester Couleur

Eröffnung mit Wolfgang Rihms Poem »Tutuguri« für sechs Schlagzeuger, Sprecher, Chöre und Orchester

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei diesem Musikfest, künstlerischer Chef ist Winrich Hopp, sind tatsächlich die besten Programmierer am Werk. Die Qualität des Angebots - Tradition und Moderne beleuchten sich wechselseitig - ist auch diesmal wieder stupend. Selbstverständlich wirken die meisten großen Berliner Klangkörper mit. Abwesend diesmal US-amerikanische, britische, französische Orchester, deren Auftritte früheren Musikfesten hohe Ehren eintrugen. Überhaupt wenige ausländische Klangkörper, was der Auswahl der Werke geschuldet ist.

Neben Anderem gibt es diesmal »Reiserouten«. Sie führen - im Zeichen des deutsch-mexikanischen Jahres 2016 - nach Mexiko und weiter nach Nord- und Südamerika. »Tutuguri« von Wolfgang Rihm, worüber noch zu reden ist, ordnet sich hier ein. Gewonnen wurde, erstaunlich, das Orquesta Sinfónica Simón Bolivar aus Venezuela, es wird Messiaens »Turangalila-Symphonie« und Heitor Villa-Lobos »Bachianas Brasileiras Nr. 2« aufführen. Ins Auge fallende Schwerpunkte gibt es sonst nicht, stattdessen Porträts von Jubilaren wie Ferruccio Busoni oder Verstorbenen wie Pierre Boulez. Daneben stehen Aufführungen markanter Werke von Ligeti, Varèse, Nørgård, Prokofjew und diverse Kammerkonzerte.

Ein Vorprogramm siedelt traditionell vor der Eröffnung. Zurückliegende Musikfeste boten gelegentlich Musik der Vorbachzeit. Diesmal erklang im amphibischen Kammermusiksaal der Philharmonie hochmoderne Musik. Es spielten das GrauSchumacher Piano Duo und die Geigerin Isabelle Faust. Ersteres führte des Franzosen Philippe Manoury »Le temps, mode d›emploi« für zwei Klaviere und Live-Elektronik auf. Das bald einstündige Stück, entstanden 2014, fasziniert durch ungeheuere Beweglichkeit und kombinatorische Vielgestaltigkeit. Manoury, geboren 1952, Komponist vom Format eines Gerard Grisey, hält von reiner Elektronik nichts. Er braucht die Vitalität der lebendigen Aktion, also Musiker, die sich mit der Maschine in produktive Beziehung setzen. Elektronik dient in dem Stück als strukturierendes, die Pianoklänge reproduzierendes, verwandelndes, verstärkendes Mittel. Andreas Grau und Götz Schumacher, erste Akteure am Piano, dazu der Komponist und Thomas Goepfer an den Hebeln der Live-Elektronik, setzten das spannend anzuhörende Werk voller Hingabe ins Bild.

In anderer Art spannend ist Luigi Nonos Spätwerk »La Lontananza nostalgica utopica futura« für Solovioline und Tonbänder. Ein Stück, das 1988 mit Gidon Kremer und dem Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestfunks uraufgeführt wurde. Jenes damals produzierte Material fundierte auch die Aufführung mit Isabelle Faust als Solistin. Das Stück ähnelt Nonos Streichquartett »Fragmente - Stille, an Diotima« (1980) und »Prometeo« (1985) insofern, als auch hier mit den Möglichkeiten, Zeit im Raum zu strecken und zu komprimieren, gespielt wird. »La Lontananza nostalgica ...« ist raumgreifend. Mehrere Pulte, im amphibischen Raum verteilt, muss die Solistin gleichsam abwandern. Enorme Binnenspannungen erzeugt die Komposition gerade durch ihre Zurückgenommenheit.

Wellen schlug die Eröffnung des Musikfestes. Als würde eine Erwiderung auf den Bruitismus der Kriege in der Welt den Saal erfassen, ergriff das vierteilige Riesenwerk »Tutuguri« für Sprecher, Chorstimmen (vom Band), sechs Schlagzeuger und Orchester von Wolfgang Rihm die Herzen der Zuhörer. Das zweieinhalbstündige Opus, ursprünglich eine Tanztheatermusik, vollendete der Komponist 1982. Da war er dreißig. Es ist vielleicht sein bestes Werk überhaupt. Bisher. Orchester und Chor der Deutschen Oper Berlin brachten »Tutuguri« im gleichen Jahr zur Uraufführung. Nun die Reprise, ein tosender Abend, an rhythmischer Gewalt, donnerndem Chaos, befeuernder Eindringlichkeit, formaler Sprengkraft kaum zu übertreffen.

Rihm scheint fast allgegenwärtig im deutsch-europäischen Konzertbetrieb, was nicht minder talentierte Komponisten gewiss beschämt. Rihm, hochproduktiv, schreibt entsprechend viel. Manche Stücke fließen, als würde seine Feder schneller gehen als der Gedanke. So problematisch manches bei ihm, so grandios die Komposition von »Tutuguri« und deren Wiedergabe. Das Werk geht auf ein Poem von Antonin Artaud aus den 1930er Jahren zurück, Produkt einer Reise des Autors zu den mexikanischen Tarahumara-Indianern, deren Tanzrituale auf ihn überwältigend wirkten. Anlass für den Komponisten, aus mannigfach strukturierten rituellen Abläufen die ganze Macht der Komposition herzuleiten.

Überraschend der Beginn: Graham Forbes Valentine, Sprecher und Schauspieler, schleicht seitwärts an die Bühne und skandiert vorweg den Text, als würge ein Spastiker die französischsprachigen Sätze heraus. Gegen Ende postiert oben im Rang, bäumt seine Gestalt sich wie ein blutendes Kalb und schreit irre Silbenketten ins Publikum. Chorstimmen durchpeitschen in Abständen den Raum. Das Orchester formiert seinerseits durchgängig rituelle Abläufe, massive, grob im Blech oder den Bässen daherkommende wie feine, etwa in Harfe, Klavier, Piccoloflöten solistisch ausgearbeitete Abläufe. Riesenhammerschläge lassen die Wände erzittern. Musik, stets auf Hochtemperatur gehalten, den Kältegraden des Geräuschs nicht abhold, selten durch Pausen unterbrochen, gleichwohl dramaturgisch hochgescheit disponiert.

Der Schlussteil gehört allein dem Schlagzeug. Die sechs Percussionisten verwenden ausschließlich Geräuscherzeuger, keine Melodieinstrumente. Oben hängen an den Rändern zwei Riesengongs, die es verlangen, angeschlagen zu werden. Urgefilden abgelauschte Trancezustände wildester Couleur sind die finalen Aspekte der monumentalen Komposition. Was das Ensemble mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Daniel Harding hier dem Saal in die Ohren setzte, dürfte ein Philharmoniepublikum noch nicht erlebt haben. Tosender Beifall.

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