Wider den »Beton-Realismus«

Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman »Das Pfingstwunder« will Dantes »Göttliche Komödie« in die Gegenwart retten

  • Michael Hametner
  • Lesedauer: 5 Min.

Allergrößte Aufregung bei Gottlieb Elsheimer, 62, Professor für Romanistik in Frankfurt am Main. Gerade hat er an einem Kongress der Dantisten in Rom teilgenommen. Am letzten Tag sind alle Teilnehmer - natürlich 33, wie die Zahl der Gesänge bei Dante - und drei Hilfskräfte des Veranstalters verschwunden: Sie betraten das Fensterbrett des Tagungssaals und stiegen auf in das Paradies oder fielen hinunter in das Inferno, die Hölle. Das war ihr Pfingstwunder im Jahre 2013. Dantes »Göttliche Komödie«, die sie gerade mit Referaten Canto für Canto beseelt hatten, hat nach ihnen gegriffen. Das literarische Großwerk, entstanden kurz nach 1300, hat sich offenbar für diese Personen in Realität verwandelt.

Der einzige »Überlebende« und Zeuge des Wunders ist Gottlieb Elsheimer, der als Erzähler diesen Vorgang zu rekonstruieren versucht, in Eitelkeit getrieben von der Frage: Warum wurde ich ausgelassen, warum bin ich nicht Teil des Wunders geworden? Er könnte sich als Dante-Kenner selbst die Antwort geben: Nach Dantes Zahlensymbolik waren nur 33 Gesänge vorgesehen, so wie Jesus nicht mehr 34 Jahre alt geworden ist! Jedenfalls ist der Mann unter dem Eindruck dieses Rätsels beschädigt, kann nicht mehr arbeiten, ja, kann das Haus nicht mehr verlassen und treibt auf Depression und auf Verwahrlosung zu.

Der Roman rekonstruiert den Ablauf des Kongresses. Dabei geht er Referat für Referat vor, die wiederum Canto für Canto »abarbeiten«. Dantes kühne Jenseits-Reise beginnt bekanntlich mit der Hölle, durchschreitet die einzelnen Kreise bis zum untersten, in dem der Teufel im Eis steckt. Anschließend arbeitet sich der Kongress - immer parallel zu Dantes »Göttlicher Komödie« - ins Purgatorium vor, die Abteilung Fegefeuer, wo der Mensch von seinem Sündengepäck erleichtert wird.

Die einzelnen Dantisten kommen aus der ganzen Welt, es sind mehr oder weniger skurrile Männer und Frauen, die der Erzähler sehr lebhaft porträtiert. Das ist für ihn - wie später für den Leser - einige Arbeit, denn das Kongresstableau bilden immerhin 33 Einzelfiguren. Die wollen, um nicht Namen zu bleiben, einprägsam gezeichnet werden.

Sibylle Lewitscharoff nimmt es ernst mit ihrer Mission, Dantes Opus Magnum dem Vergessen zu entreißen. Wahrscheinlich hat sie recht, wenn sie daran erinnert, dass es das am meisten genannte und gerühmte Werk der Weltliteratur ist, aber das am wenigsten gelesene. Als im vergangenen Jahr Dantes Geburt vor 750 Jahren gedacht wurde, da erhoben vermutlich vor allem Dante-Sekundärkenner die Stimme. Die singuläre Stellung von Dante und seiner »Göttlichen Komödie« wussten sie ohne Stocken zu referieren, selten aber von der Schönheit der Verse zu sprechen. Sibylle Lewitscharoff vermag es! Sie scheint die rund 50 existierenden Übersetzungen ins Deutsche zu kennen, denn sie zitiert aus mancher. Immer dann nimmt der Roman Züge eines Essays an. Die Autorin scheut sich nicht, wissenschaftliche Kommentare großer Dante-Kapazitäten zu zitieren. Sie prüft die Qualität von Übersetzungen durch hermeneutische Gegenüberstellung.

Diese ambitionierte, ins literaturwissenschaftliche und philosophische Fach fallende Beschäftigung mit Dantes Werk erweist sich nicht als Hintergrund oder zweite Ebene des Romans, sondern als Hauptgeschäft. Die Absicht ist abgedeckt vom Motiv, das große Universalwerk der Menschheitsgeschichte vor dem Vergessen zu retten. Die private Geschichte des Erzählers (seine gescheiterte Ehe, sein sexuelles Interesse, seine Unfähigkeit, den Schock des Pfingstwunders zu verarbeiten usw.) ist literarisch von durchschnittlichem Format, ebenso wie die 33 Figuren es sind. Immerhin bescheinigen sie der Autorin viel Geschick. Literarisches Handwerk ist nicht unbedingt à la mode - Sibylle Lewitscharoff besitzt es. Trotzdem bleibt unübersehbar, dass der Erzähler und seine 33 Mit-Dantisten letztlich als Vehikel für das missionarische Motiv herhalten müssen. Das Erzählen erfolgt entlang des Tagungsverlaufs, wechselt den Handlungsort gelegentlich mit der Wohnung - mittlerweile eine Räuberhöhle - des Erzählers und mündet in das Pfingstwunder, den Sprung vom Fensterbrett.

Warum der Erzähler das Wunder verpasst hat, könnte an seiner Leidenschaftslosigkeit liegen. Je mehr Wissen er in seiner wissenschaftlichen Karriere angehäuft hat, desto unbeteiligter an den Gegenständen seines Wissens ist er geworden. Ein Wissenschaftler am Ende seiner Karriere - eine seelenlose Enzyklopädie? Da ist die Figur dann auch mal mehr als ein Platzhalter für die Autorin.

Natürlich genügt sich Lewitscharoffs Zuwendung zu Dantes »Göttlicher Komödie« nicht allein in der Absicht, ein universales Werk vor dem Absturz ins Nichts zu retten. Der Roman versucht, an die Gegenwart anzuschließen. Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist. Dieser gern zitierte Satz wird von den nüchternen (und ernüchterten!) Zeitgenossen selten wirklich als lebenspraktische Maxime anerkannt und zugelassen. Das sieht Sibylle Lewitscharoff anders. Recht hat sie!

Und dieses zweifache Vorhaben, die werkgerechte Annäherung an Dantes Opus und die Werbung für eine Bereitschaft zur Wundergläubigkeit, ist tatsächlich in einer Zeit des Pragmatismus und »Beton-Realismus« (Begriff aus dem Roman) missionarisch zu nennen. Daraus zwar keinen Anwärter für den Deutschen Buchpreis, aber ein zu Teilen unterhaltsames und intellektuell anregendes Erzählwerk gemacht zu haben, das den Leser näher an Dante heranführt und dazu noch schmunzeln lässt über ein paar der literarischen Figurenbilder (nicht über alle 33, das gelingt nicht!), ist nicht wenig. Respekt!

Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder. Roman. Suhrkamp, 350 S., geb., 24 €.

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