nd-aktuell.de / 15.09.2016 / Sport / Seite 19

Der Skandal, der das Gegenteil ist

Oliver Kern versucht, entlarvende Propaganda zu entlarven

Oliver Kern

Anonymous wird oft gefeiert, weil jene geheimnisvoll unbekannten Hacker die dunklen Machenschaften aufdecken, die Geheimdienste, Militärs und korrupte Politiker lieber vor den Menschen verstecken wollen. Transparenz als höchstes Gut also. Doch das Problem an der Anonymität ist, dass sich jeder hinter der Maske des Guy Fawkes verstecken und auf der Welle der gefeierten Aufklärer mitschwimmen kann, auch wenn er eigentlich nur Propaganda betreibt.

Eine Hackergruppe, die sich selbst Fancy Bear nennt, nutzt nun das bekannte Motto. »Wir sind Anonymous. / Wir sind viele. / Wir vergeben nicht. / Wir vergessen nicht. / Erwartet uns.«, steht auf der Website »fancybear.net« gleich unter einem Vorwort, indem die Gruppe vorgibt, für fairen und sauberen Sport zu stehen. Daher sei sie nach ihrem Hack der Welt-Antidoping-Agentur WADA auch so »geschockt« gewesen zu sehen, wie »verdorben« das Olympiateam der USA in Rio zu seinen Titeln gelangt sei.

Als angebliche Beweise veröffentlichte Fancy Bear sodann anscheinend authentische Dokumente der WADA, aus denen hervorgeht, dass die viermalige Turnolympiasiegerin Simone Biles in Rio vier Mal positiv getestet wurde. Die siegreiche Basketballerin Elena Delle Donne zumindest ein Mal. Im selben Atemzug werden auch gleich noch die Tennisstars Serena und Venus Williams des Dopings bezichtigt, obgleich ein positiver Befund bei den Schwestern gar nicht vorliegt.

Das klingt nach Skandal, doch der hat ein Problem: Alle vier haben medizinische Ausnahmegenehmigungen zur Einnahme von ansonsten verbotenen Substanzen, ausgestellt von Verbandsärzten und akzeptiert von der WADA. Hier liegt also nicht ein einziger Dopingfall vor, und auch kein Beweis für »verdorbene Titel«. Trotzdem schreibt Fancy Bear: Die US-Stars »haben die Lizenz zum Dopen bekommen.« Das beweise, »dass die WADA und die medizinische Abteilung des IOC korrupt und betrügerisch sind.« Nein, das tut es nicht.

Hier wird die Grenze zwischen Transparenz und Propaganda überschritten, und letztere sollte als solche auch enttarnt werden. Die Hacker veröffentlichen nicht nur Dokumente, sie liefern gleich die eigene Interpretation mit, die viele Leser teilen, weil sie jeden Tag von neuen Dopingfällen hören: »Alle Leistungssportler dopen«. Das stand leider so auch schon in dieser Zeitung - ebenso unbewiesen.

Die russische Regierung wies eine Beteiligung am Hack übrigens von sich. Über die erste Veröffentlichung von Fancy Bear - weitere sind angekündigt - dürfte sie sich jedoch gefreut haben, denn das russische Argument gegen die Sperren ihrer Athleten von den Olympischen und Paralympischen Spielen war stets: Die anderen dopen doch auch. Das Problem daran ist, dass den russischen Sportlern Doping in großem Umfang nachgewiesen wurde, sowie den Behörden Mitwisserschaft und Vertuschung. Ähnlich dokumentierte aktuelle Fälle gibt es im Westen derzeit nicht. Daran wollte Fancy Bear anscheinend etwas ändern: Schaut her: Auch die Amis dopen unter dem Schutz der Mächtigen.

Der in Russland so verhasste ARD-Reporter Hajo Seppelt hatte in seinen Dokumentationen Betrüger unter Trainern und Sportlern auf frischer Tat ertappt und echte Beweise für eine Dopingkultur gesammelt. Fancy Bear dagegen liefert im Grunde nur Beweise dafür, dass nicht gedopt wurde: Die 19-jährige Biles erklärte, sie habe eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und nehme dafür Medikamente. Bei den Williams-Schwestern handelte es sich gar nur um kurzfristige Ausnahmen, die in Verletzungszeiten fielen. Zum Scoop wird die Story aber erst, wenn der Betrug beim Erteilen der therapeutischen Ausnahmen bewiesen wird.

Die Netzgemeinde lästert trotzdem schon fleißig: »Bei diesen Muskeln war doch klar, dass die gedopt hat«, wird über Biles und leicht abgewandelt auch über Serena Williams geschrieben. Eine muskulöse Frau? Mein Gott, das kann doch nicht natürlich sein! Ein Bild, das Dürrsein für Frauen zum Ideal erklärt, ist viel unnatürlicher.

Therapeutische Genehmigungen können missbraucht werden. Keine Frage. Dass es nicht getan wird, kann niemand beweisen. Den umgekehrten Beweis kann jedoch auch keiner führen, was jenes »Die dopen doch alle« zum Stammtischgeschwätz degradiert. Ausnahmen bestätigen nun mal keine Regel, sondern stets nur die Ausnahmen. Wenn alle dopen: Warum haben dann positive Tests noch immer einen hohen Nachrichtenwert, all die negativen bleiben aber völlig unbeachtet? Wer aus mehr als 100 - fraglos viel zu vielen - positiven Dopingproben von den Sommerspielen 2008 und 2012 schließt, dass alle Sportler dort gedopt hätten, vergisst, dass fast 10 000 Tests durchgeführt wurden. Die Quote liegt also bei unter zwei Prozent! Trotz der heute verbesserten Nachweismethoden.

Das Moskauer Antidopinglabor hat hingegen kurz vor der Ankunft von WADA-Inspekteuren 8000 von rund 11 000 Proben vernichtet, weil diese die Vertuschung positiver Proben bewiesen hätten. Das sind Dimensionen, in denen Ausnahmen zur Regel werden, auch wenn das all jene, die WADA-Berichte lieber gar nicht lesen, nicht wahrhaben wollen.

Über die Ausnahmegenehmigungen kann man gern diskutieren. Dopingforscher Perikles Simon sieht in ihnen »ein Stimulus zum Dopen«. »Wenn ein Hochleistungsathlet liest, was er alles nehmen darf, wenn er einen Arzt findet, der ihm die Ausnahmegenehmigung erteilt«, sagte er dem »Tagesspiegel«, »dann ist es logisch und konsequent, dass er das auch versucht.« Womit wir wieder beim Stammtisch wären: Alle Sportler betrügen, wo sie nur können.

Simon will die Ausnahmegenehmigungen abschaffen, weil sie den Wettbewerb verzerren würden: »Wenn einer Asthma hat oder sonst was, kann er eben nicht im Hochleistungssport starten.« Gerade während der Paralympics, bei denen alle nach mehr Inklusion schreien, ist das ein unglaublich exklusiver Ansatz. Ausnahmegenehmigungen sind dafür gedacht, die Voraussetzungen für den Wettbewerb für so viele Menschen wie möglich anzugleichen, jedem eine Chance zum Mitmachen zu geben. Auf die paralympische Startklasse »Allergiker« habe ich jedenfalls keine Lust.