Bloß nicht noch mal nachzählen!

MEINE SICHT

  • Lesedauer: 3 Min.

»Papa, welchen von den Leuten wählst du eigentlich?«, fragt mich mein siebenjähriger Sohn noch kurz vor der Wahl, als wir die bunt beklebte Hauptstraße im Kiez entlangfahren. Ich zeige aufs entsprechende Plakat und frage zurück: »Wen würdest du denn wählen?« Das hat er sich offenbar noch nicht überlegt: »Ähm, ... , ja die find’ ich auch gut. Ich bin auch für die«, sagt er schließlich. Welch merkwürdige Formulierung: für einen Politiker zu sein. Sollten die nicht etwas für uns tun? Egal, sie klingt nach spannendem Wettbewerb und den nutze ich schamlos zur Bildungsoffensive aus: »Willst du nicht zur Auszählung mitkommen? Die ist in deinem Klassenzimmer und du siehst direkt, wer gewinnt!« Sohn nickt, und Papa hofft, Begeisterung für die Demokratie in der jungen Seele wecken zu können.

Als die Wahlhelfer die große Urne ausschütten, ist der Kleine noch begeistert. Doch von wegen Gewinner: Erst mal werden blaue von weißen von orangefarbenen Zetteln getrennt. Ich frage mich, warum nicht vorher drei Urnen aufgestellt wurden. Der Sohn fragt: »Wie lange dauert’s noch?«

35 Minuten, wie sich herausstellen soll. In der Zeit schaue ich nach den ersten Prognosen auf dem Handy. Während hier zwei Mal die blauen Zettel nachgezählt werden, lese ich von Hochrechnungen. Wie können die anderen Wahlkreise schon ausgezählt sein, während hier noch nicht mal erfasst worden ist, wo die Kreuze gemacht wurden? Es soll mein letzter Blick aufs Handy bleiben, denn nach dem vierten »Wie lange dauert’s noch?« gebe ich es dem Jungen zur Ablenkung. Igel Sonic springen zu lassen ist interessanter als die Wahl.

70 Minuten dauert das Zählen der blauen Zettel. Aus Zehnerstapeln werden Hunderter. Am Ende sind es 836. Zuvor wurden an der Urne aber nur 835 Striche gemacht. Was nun? Unsicherheit macht sich breit. »Wir zählen erst mal die Stimmen aus. Vielleicht stimmt’s dann wieder«, sagt einer, die anderen sechs stimmen zu. Auch ich atme durch. Bloß nicht noch mal alle durchzählen!

Jetzt wird also nach Parteien sortiert. »Wo ist der Haufen mit Alfa?«, fragt eine Wahlhelferin. »Ach ne! Die DKP jibt et imma noch«, sagt erstaunt eine andere. Die Auszählleiterin zeigt mir einen ungültigen Stimmzettel: »Sie sind seit Jahren die ersten Zuschauer. Das muss ich gleich mal ausnutzen«, meint sie im Bemühen um absolute Transparenz. Mein Kind schaut gar nicht erst hoch. Er hat gerade Amy freigeschaltet, ein rosa Igelmädchen. Die ist jetzt wichtiger.

Nach zwei Stunden steht das Ergebnis fest: »Wir haben gewonnen! 20 Stimmen Vorsprung«, flüstere ich meinem Jungen zu. Er fragt, ob wir endlich gehen können. Ich wage nicht, die noch ungezählten weißen und orangefarbenen Zettel anzusprechen und ziehe ihm die Jacke über. Es ist kalt geworden draußen. »Kann ich zu Hause noch Lego spielen?« »Nein, es ist schon spät, und du musst morgen in die Schule!«, antworte ich. »Aber da war ich doch gerade, und es war so langweilig!«, trottet er hinter mir her. Begeisterung für die Demokratie ist noch nicht geweckt. Ich werde mich nächstes Mal als Wahlhelfer melden. Vielleicht geht es dann ein bisschen schneller.

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