Ende der Gemütlichkeit

In der Jugendtheaterwerkstatt Spandau spielt ein Bürgerensemble »Das glücklichste Volk« nach Daniel Everett

  • Katrin Schielke
  • Lesedauer: 3 Min.

Von Katrin Schielke

Wie ist es, wenn man sich in andere hineinversetzt und die Perspektive wechselt? Die Zuschauer in Carlos Manuels Inszenierung »Das glücklichste Volk« in der Jugendtheaterwerkstatt Spandau (jtw), das im Rahmen eines Festivals zum Thema Superdiversität stattfindet, werden es erleben. Ihnen wird einiges zugetraut: Zusammenhänge zwischen den drei Teilen des Abends herstellen, sich in ständigen Perspektivenwechsel begeben. »Vorbei ist es mit der Gemütlichkeit« - so heißt der dritte Teil, aber das Motto gilt schon vom ersten Moment an. Der Abend wird fordernd, lang und laut, aber auch prächtig, bunt und ekstatisch.

Es zischelt, pfeift und brummt im Saal, als die Zuschauer mit dem amerikanischen Missionar Daniel Everett in den brasilianischen Urwald marschieren und sich vor kleinen Lagerfeuern niederlassen. Bunt gekleidete, ausgelassene Gestalten streunen durch den Saal. Die Inszenierung Manuels basiert auf Everetts Buch »Das glücklichste Volk«. Everett reiste 1977 nach Brasilien, um den Stamm der Piraha zum christlichen Glauben zu bekehren. Als Everett begann, deren Sprache zu lernen, stellte er schnell fest, dass diese Sprache eine ganz neue Perspektive auf die Welt wirft. Die Piraha sprechen nicht über Dinge, die sie nicht selbst erlebt haben wie die ferne Vergangenheit, die Zukunft oder Ereignisse in der Fantasie.

»Unser Wissen bedeutet ihnen nicht viel«, stellt Everett fest. Die Piraha sind glücklich, mögen den Geistlichen, wollen aber seinen Glauben nicht - Jesus mache den Frauen unter ihnen Angst mit seinem Riesenpenis. Daniel stellt fest: »Glückliche Menschen brauchen keinen Erlöser.« Carlos Manuel, der Bühnenbildner Fred Pommerehn, der Musiker Mathias Hinke und das Bürgerensemble der jtw - 30 Schauspielerinnen und Schauspieler aus aller Welt im Alter zwischen 16 und 78 Jahren - haben aus Everetts Buch ein rauschhaftes und witziges Fest in einem famosen, psychedelisch gefärbten Spiegelurwald gemacht.

Vom Urwald in die Zivilisation - im zweiten Teil ist eine lange festliche Tafel gedeckt, die Zuschauer betrachten diesmal aus der Distanz schwarz und weiß gekleidete Damen und Herren der Gesellschaft eines vergangenen Jahrhunderts. Nur der Rock der Hauptfigur Mina ist blutrot, und ganz abseits steht allein ein alter Mann mit gelbem Frack - Graf Dracula. Die Verbindung zum Klassiker »Dracula« von Bram Stoker herzustellen, ist eine Herausforderung. Aber auch hier geht es wieder darum, wie man versucht, sich in Andere hineinzuversetzen, wie man sich den Anderen, den Unbekannten erfindet, und darum, wie sich die Gesellschaft Dracula als Feind zusammenbaut.

Im dritten Teil sitzen die Zuschauer an kleinen Tischen, das Bürgerensemble deklamiert Zitate aus verschiedensten Texten und gesellschaftspolitischen Theorien. Wie sieht unser Leben im Jahr 2066 aus - unsere Stadt, unsere Arbeit, unsere Beziehungen, die Technologien? Hoffnungsvoll rufen die Darsteller am Ende: »Persönliche Erlebnisse werden wieder wichtig.« Im großen Spiegel auf der Bühne scheint auf einmal alles möglich, klanglich schwankt der dritte Teil zwischen heftigem Stimmenwirrwarr und Momenten »mikropathetischer Stille«. Der dreieinhalbstündige Abend entlässt uns mit offenen Fragen und vielen visuellen und klanglichen Eindrücken und einem Programmheft, in dem man sich noch weiter ins Thema einlesen kann.

Mit allen Texten des Abends hat sich das Bürgerensemble vier Monate lang in einer öffentlichen Dramaturgie- und Entwicklungsphase intensiv beschäftigt und die Texte ausgesucht. Gemeinsam Texte erarbeiten - auch Klassiker der Literatur wie »Amerika« von Franz Kafka oder »Peer Gynt« von Henrik Ibsen - das hat in der jtw Tradition: Seit 1987 arbeiten hier im Viertel Falkenhagener Feld Künstler und vor allem Jugendliche zusammen und gestalten die Idee eines offenen Raumes für die Entfaltung von Kreativität im Denken und Handeln. Kultur für alle, weitgehend kostenlos.

Nächste Vorstellungen: 23., 24., 25. September

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