Die Flüchtlingsdramen in aller Welt haben eine unübersehbar gewordene Literatur beflügelt. Zwei Bücher - von einer zur Flucht gezwungenen Philosophin und einem »Fluchthelfer« - ragen da heraus. Hannah Arendts Aufsatz »We Refugees« (Wir Flüchtlinge) erschien im Januar 1943 in »The Menorah Journal« und ist trotz einer im Rotbuch Verlag 1986 erschienenen Übersetzung weitgehend unbekannt geblieben. Dankenswerterweise ist sie jetzt, versehen mit einem profunden Nachwort von Thomas Meyer, neu herausgegeben worden. Der kurze Text befasst sich in erster Linie mit der Flucht einst vor deutschen Antisemiten, enthält aber auch wichtige Denkanstöße für uns heute.
Die ins Exil gezwungene Hannah Arendt schreibt: »Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und damit die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.« In der Folge verneint die assimilierte Jüdin den Sinn von »Assimilation« - sprich: Integration - und die Illusion eines schützenden Nationalstaats mit Nachdruck. Staaten seien nicht in der Lage, Flüchtlingsprobleme zu lösen. »Die Gemeinschaft der europäischen Staaten zerbrach, als - und weil - sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Mitglieds zuließ«. Die Philosophin fordert »weltweit egalitären Strukturen«.
Der im Frühjahr verstorbene Rupert Neudeck »vermacht« uns in seinem postum erschienenen Buch seine Erfahrungen als Retter in der Not, vor allem als Initiator von »Cap Anamur«, dem Flüchtlingsschiff, das im Südchinesischen Meer vietnamesische Boatpeople aufnahm, für die er dann in Deutschland - unter größten Schwierigkeiten - Asyl erreichte. Er verteidigt die zunächst offene Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik und zeigt, in dem er einen Katalog des in der Bundesrepublik lebenden Schriftstellers Rafik Schami zitiert, wie Integration gelingen kann. Die von ihm temperamentvoll erzählten Beispiele törichter und gemeiner Bürokratie zeigen deutlich, wo es überall hierzulande noch hapert.
So unterschiedlich die beiden Bücher auch sind, die Philosophin wie der Praktiker wenden sich explizit gegen jegliche Zurückweisung von Flüchtlingen und appellieren eindringlich an Vernunft und Mitgefühl.
Hannah Arendt: Wir Flüchtlinge. Aus dem Englischen von Eike Geisel, mit einem Essay von Thomas Meyer. Reclam, Ditzingen 2016. 64 S., br., 6 €. Rupert Neudeck: In uns allen steckt ein Flüchtling. Ein Vermächtnis. C.H.Beck, München 2016. 169 S., br., 14,95 €.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1026393.werre-all-refugees.html