Pokémon Go - wir danken Dir!

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Kulturpessimisten und linke Technikskeptiker aufgepasst! Was jetzt kommt, wird euch entsetzen. Wer sich das Frühstück nicht versauen will, legt also jetzt diese Zeitung zur Seite und kehrt zu seiner Thomas-Mann-Lektüre zurück oder vertieft sich wieder in die Klassiker der Blauen Bände. Obwohl, so viel sei vorweg geschickt, in der folgenden Geschichte gibt es durchaus Ähnlichkeiten mit den weltentrückten Figuren in Manns »Zauberberg«, und auch in den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels ließen sich mit genügend Phantasie Vorahnungen dessen finden, was zur Zeit die soziale Ordnung umwälzt.

Seit einigen Monaten ist die Jugend Berlins wie ausgewechselt. Pubertierende - meist männlichen Geschlechts - verlassen Abend für Abend ihre Zimmer und Spielekonsolen und laufen freiwillig und in kleinen Gruppen durch die Stadt. Manche sieht man schnellen Schritts die Uferpromenaden entlanglaufen, einige stehen sogar an den Wochenenden früher auf, um noch vor dem Frühstück einen Morgenspaziergang zu absolvieren.

Die Plätze vor den Schulen und den Kirchen, an den Ufern der Seen und der Spree, sind wieder von jungem Volk belebt. Einst hatten sich dort die Eltern der Jugendlichen zum abendlichen Plausch und zum Austausch von ersten zarten Intimitäten getroffen, dann verwaisten die Plätze zusehends; die Jugend Berlins verkroch sich in ihre Höhlen und verließ diese nur, um der Schulpflicht Genüge zu tun oder um Nachschub an Chips und Energydrinks zu ordern.

Darunter litten vor allem die bedauernswerten Eltern der Teenager. An den Wochenenden zogen die Jugendlichen nicht mehr wie ihre Vorfahren »um die Häuser« oder weilten bis weit nach Mitternacht in verruchten Gaststätten und Örtlichkeiten, in denen das Publikum zu lautem Krach die Gliedmaßen zuckt, sondern blieb ortsfest in der elterlichen Wohnung hocken und sorgte dafür, dass ihre Eltern vor allem eines nicht mehr hatten - ein geregeltes Sexleben! Findige Paare wichen an den Wochenenden auf Ferienwohnungen in Brandenburg aus. Ein teurer Spaß!

Wahrscheinlich ging es paarungswilligen Eltern in anderen Teilen der Welt ähnlich. Einige von ihnen, die als Spieleentwickler bei einer US-amerikanischen Firma arbeiten, hatten schließlich einen genialen Einfall. Sie konstruierten ein kostenloses sogenanntes Augmented-Reality-Spiel. Bei diesem geht es, kurz gesagt, darum, mit Hilfe seines Wischkastens, der auch als Telefon genutzt werden kann, kleine virtuelle Fantasiewesen zu fangen, die nur durch das Objektiv dieses Kastens sichtbar sind. Der Witz dabei ist, dass man für das Spiel die Wohnung verlassen muss. Die sogenannten Arenen, in denen man seine Wesen gegen die anderer Spieler antreten lassen kann, befinden sich nämlich justament dort, wo schon immer die Jugend ihre Freizeit verbrachte: Auf den Plätzen vor den Schulen, den Kirchen oder ähnlichen Treffpunkten. Pokémon Go - wir danken Dir!

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