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Mathematik ist Liebe

Dogan Akhanli

  • Roland Kaufhold
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Anfang dieses Romans steht ein Brief: Ein in der Literaturwelt unbekannter Autor namens Dogan Akhanli schickt einer Lektorin, Polaris, unaufgefordert ein Manuskript. »Die Nacht, in der der Rhein über die Ufer trat« lautet der Titel. Der Protagonist, Mehmet Nazim, ist ein renommierter türkischer Musiker. In den 1990ern muss er aus politischen Gründen aus der Türkei nach Köln fliehen. Er liebt die Stadt, streift im Roman durch zahlreiche Kölner Straßen, die auch die Wege Akhanlis sind.

Seelisch gebunden ist Mehmet an den Rhein. Es gebe deutliche Anzeichen, dass dieser demnächst über die Ufer trete. Das seien Vorboten einer Katastrophe. Der Ort seiner Sehnsucht ist das Kölner Ausflugsboot »Alte Liebe«. Mehmets Begleiterin ist Polaris. Die unglücklich verheiratete Literaturwissenschaftlerin hatte den Kontakt zu dem Schriftsteller gesucht, er hatte wiederum ihre Sehnsucht berührt. Polaris schreibt an einem Buch über den Kölner Heinrich Böll, dessen frühen Romane von der Nachkriegszeit handeln. Polaris erlebt Mehmet bei einem Konzert vor Zehntausend Menschen. Seine Stimme elektrisiert sie.

Als Kind eines talentiert-isolierten Vaters, eines Mathematikprofessors, der in der ihm eigenen Weise kommuniziert, muss Mehmet vieles ertragen. Nur über die Mathematik vermag er Liebe zu zeigen. Mehmets Vater zieht sich in die Welt der Zahlen zurück, so wie sich Mehmet später in die Welt der Musik zurückziehen wird. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei verschlechtern sich in jenen Jahren. Die Angst ist allgegenwärtig und wird zugleich geleugnet: »Angst war in jenen Jahren ein Tabu. Zumindest gehörte es sich nicht, es war ein Gefühl, für das man sich schämen sollte.«

Der junge Mehmet lehnt sich gegen die Verhältnisse auf. Er bringt eine Untergrundzeitschrift von der Druckerei zum Vertriebsort. Er spürt seine Gefährdung und lässt sich einen falschen Pass ausstellen. Nun erst ist im Roman sein Name Dogan Akhanli.

Parallel hierzu entfremdet er sich unter dem Druck der existenziellen Bedrohung von seinem Vater: »Die Mathematik ist zu nichts nütze!«, schleudert er diesem empört entgegen. Es entsteht eine Leere zwischen ihnen. Der Sohn, der zweimal im Gefängnis der Willkür ausgeliefert war, verlässt 1979 die Türkei und flieht nach Köln. Dort baut sich Mehmet/Dogan Akhanli ein neues Leben auf. Er lernt die Liebe kennen und vertieft sich in die Musik, die er zugleich in einen politischen Kontext setzt. Und doch prophezeit er Polaris: »Ich werde in die Türkei zurückkehren«.

In dem Böll geschuldeten Kapitel »Und sagte kein einziges Wort« beschreibt Mehmet/Akhanli, wie er durch die Straßen Kölns streift, von innerer Unruhe angetrieben. An dem Tag in den 1990er Jahren, als in Köln das Wasser über die Ufer tritt, denkt er an Polaris, an sein vergangenes Leben - und an seinen fernen Vater, der auf dem Sterbebett liegt.

Akhanlis Roman, der in der Türkei bereits 2008 erschienen ist, endet mit dem Kapitel »Das letzte Wort haben immer die Herausgeber«. Während einer Redaktionskonferenz notiert die Lektorin ihr Votum zum Manuskript: »Lohnt sich, es zu verlegen. Der Titel sollte geändert werden: ›Die Tage ohne Vater‹.«

Dogan Akhanli: Die Tage ohne Vater. Übersetzt von Önder Erdem. Kitab Verlag, 193 S., 18,50 €.

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