nd-aktuell.de / 10.10.2016 / Politik / Seite 2

Allianz der Einsamkeiten

Erdogan und Putin wollen in Istanbul über Normalisierung, Turkstream und Syrien sprechen

Elke Windisch, Moskau

Formfehler bei der Entschuldigung von Recep Tayyip Erdogan für den Abschuss einer russischen Militärmaschine hatte Putin, sonst außerordentlich ehrpusselig, ignoriert. Sogar noch vor der offiziellen Versöhnung Anfang August stellte er sich in St. Petersburg schützend vor den Amtsbruder, als der Westen diesen wegen Überreaktionen auf den Putschversuch im Juli zart anzählte. Zu Wochenbeginn darf nun Erdogan den »teuren Freund Wladimir« auf heimatlichem Boden in die Arme schließen.

Putins letzter Türkei-Besuch fand im Dezember 2014 statt und wirbelte international Staub auf. Unter dem Druck westlicher Sanktionen wegen der Ukraine-Krise suchte Putin ausgerechnet den Schulterschluss mit dem östlichsten Vorposten der NATO. Dieser war zudem Russlands ewiger Erzrivale beim Gerangel um Einfluss auf dem Balkan, im Südkaukasus und in Zentralasien. Zum Ärger Europas konnte er Erdoğan auch noch für Turkstream begeistern: eine Pipeline, die über den Boden des Schwarzen Meeres verlegt werden und die Türkei sowie Südosteuropa unter Umgehung der Ukraine mit russischem Gas beliefern sollte.

Bei der praktischen Umsetzung klemmte es indes schon vor dem türkischen Abschuss eines russischen Kampfjets im Syrien-Einsatz. Danach aber gab es eine Eiszeit. Moskau legte das Projekt und den Bau des Kernkraftwerks Akkuyu an der türkischen Mittelmeerküste auf Eis, verhängte einen Einfuhrstopp für Obst und Gemüse aus der Türkei und »empfahl« Reiseveranstaltern wie Airlines, die Türkei aus dem Programm zu nehmen.

Empfehlungen von ganz oben sind nach russischem Politikverständnis Anweisungen. Die Branche kuschte, türkische Hotels hatten Lehrstände von bis zu 80 Prozent. Beim Versöhnungsgipfel sagte Putin Erdogan die schrittweise Aufhebung des Embargos zu. Die letzten Sanktionen sollen zu Jahresende fallen, Einzelheiten sind eines der Themen bei Putins Besuch. Ganz oben auf der Agenda stehen indes die Realisierung von Turkstream und Syrien.

Die Pipeline könnte bescheidener ausfallen als geplant. Ginge Südosteuropa vor Brüssel in die Knie, bliebe nur die Türkei als Abnehmerin. Gasprom würde dann Verluste machen, das Projekt aus politischen Gründen aber wohl trotzdem durchziehen. Einen Konsens zu Syrien hält Veronika Kraschenninikowa, Chefin des Moskauer Instituts für außenpolitische Studien, für unwahrscheinlich. Die Türkei sei zu lange und zu tief in den Konflikt involviert, allerdings inzwischen von Forderungen nach einem Rücktritt Baschar al-Assads abgerückt. Es gebe sogar Gerüchte über ein Treffen Assad/Erdogan in Russland, bei dem Putin zeitweilig als Vermittler mit am Tisch sitze. Das, so Kraschenninikowa, wäre ein großer Schritt nach vorn und würde vor allem dem syrischen Volk helfen. Auf Kompromisse, die zu dessen Lasten gehen oder gar die territoriale Integrität Syriens in Frage stellen, werde Russland sich nicht einlassen.

Auch würden Ankara und Moskau die vereinbarte umfassende Wiederaufnahme der Zusammenarbeit unterschiedlich interpretieren. Putin werde nicht zulassen, dass »bestimmte Kreise« in der Türkei auf der Krim und in anderen Regionen Russlands mit turksprachiger Bevölkerung erneut versuchen, aktiv Einfluss auf die Zivilgesellschaft und sogar auf Provinzfürsten zu nehmen. Ihnen hatte der Kreml nach dem Abschuss des Kampfjets ebenfalls »empfohlen«, die Taue zu Türksoy - der Organisation für kulturelle Zusammenarbeit der Turkvölker - zu kappen. Nur die Teilrepublik Tatarstan wagte, wider den Stachel zu löcken.

Beobachter glauben ohnehin, die Männerfreundschaft habe eine nur geringe Halbwertzeit. Der Politologe Michail Rostowski spricht von einer »Allianz zweier Einsamkeiten«. Seit den Massenverfolgungen nach dem Putschversuch sei Ankara international ähnlich isoliert wie Moskau. Beide hätten nicht nur den Westen, sondern - allerdings aus unterschiedlichen Gründen - auch die meisten Staaten in Nahost gegen sich aufgebracht. Ein NATO-Austritt der Türkei, wie er bereits durch die Fieberphantasien russischer Hurrapatrioten geistert, sei irreal. Erdogan würde dafür zu Hause keine Mehrheit finden. Eine Pro-NATO-Orientierung gehöre zur DNA der türkischen Streitkräfte. Bei einer Abkehr könnte das Militär mit einem neuen Putschversuch reagieren und diesmal erfolgreich sein.

Mit der Türkei, glaubt Balkan-Experte Artjom Ulunjan, werde es in der NATO jedoch künftig ein Gegengewicht zu russophoben Balten und Polen geben. Allein schon um die internen Fliehkräfte zu bändigen, müsse die Allianz darauf Rücksicht nehmen.