Seltsam, wie unversöhnlich wir sind. Unversöhnlich, das meint: Wir lassen uns die Erinnerung nicht antasten, wir verweigern uns den Wertekorrekturen der laufenden Zeit. Die ersten Filme, die ersten Theatererlebnisse, die erste Schlagermusik: bleibende Manifeste der Entschlossenheit, etwas nicht aufzugeben, es als unvergänglich zu behaupten. Wir sind Bestandsaktivisten, wir beanspruchen die Unumstößlichkeit dessen, was unserem Leben günstig war.
Günstig ist, was erhebt, was begeistert, was in Bann zieht. Wolf Kaiser zum Beispiel. Er war zwischen 1950 und 1967 einer der beliebtesten Schauspieler des Berliner Ensembles. Unvergessen auch sein glatter, elegant schuftiger Jachmann in Hans-Joachim Kasprziks TV-Ereignis »Kleiner Mann - was nun?« Dieser tolle Kraftnaturkerl Kaiser - königsgleich, verführerisch, schlitzohrig. Die erste Hauptrolle verkörperte er 1956 als Heiratsschwindler Maurice Daurignac im DEFA-Film »Die Millionen der Yvette«. Dann der Feldprediger im »Courage«-Film, der Schinderhannes in »Thomas Müntzer«, an der Volksbühne später (neben Angelica Domröse) der Caesar in »Caesar und Cleopatra« Und sein Spiel in Egon Günthers mystisch-derbem, erotisch prunkenden Fernsehfilm »Ursula« - da saßen SED-Zensoren entsetzt mit eingeklemmten Schwänzen vor den Wollüsten der Kunst.
Dieser Schauspieler gab den Proletariern römisches Senatorenprofil, den Offizieren eine fies um sich protzende Verschlagenheit, den Zwielichtigen einen reizvollen Schatten, den strahlend Produktiven etwas listig Unzüchtiges. Seine gravitätische Eitelkeit besaß Stil. Und sie glich einem Selbstschutz: Attacken ganz aus Männlichkeit sind oft reine Verteidigungsschlachten, zu der sich die Unsicherheit aufrafft, um unerkannt zu bleiben.
Dass es in seinen letzten Jahren still wurde um den Extra-Vaganten Kaiser, hat sein Grabredner Eberhard Esche sehr berührend ins Positivum umgewandelt: »Als Künstler existent blieb Wolf in immer zunehmenderem Maße nur im Erinnerungsvermögen des Publikums. Nur? Dieses Vermögen ist ein gewaltiges Potenzial, denn es wird von Glaube, Liebe und Hoffen getragen.« 1992 sprang Wolf Kaiser aus dem Fenster seiner Wohnung in der Berliner Friedrichstraße. Still, gefasst. Sprang in den Tod. Selbstmord, schrieben die Zeitungen. Selbstmord? Kaiser mordete sich nicht. Er nahm sich das Leben - nahm es her zu sich, gegen eine Welt, die ihm so Wichtiges weggenommen hatte. Das Gefühl etwa, seinen Beruf ausüben zu dürfen ohne Beißübungen für einen gierigen Markt.
Kaiser, 1916 in der Schweiz geboren, war der Mackie Messer der DDR und ihr Meister Falk (in Benito Wogatzkis Adlershofer Mehrteiler, der seinerzeit die Straßen fegte wie im Westen Durbridge-Krimis). Nur wer diesen Künstler nicht begriff, nannte beide Rollen, den Mackie und den Meister Falk, einen unbegreifbaren Widerspruch. Es war aber kein Widerspruch, es war Aufgehobenheit in einer Hoffnung: die eindeutigen Helden von heute seien andere als die zwielichtigen Helden von gestern, und zu zeigen seien beide so, dass eine heitere Einsicht wächst in die Veränderbarkeit der Welt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1029977.meister-falk-war-roemer.html