nd-aktuell.de / 27.10.2016 / Kultur / Seite 15

Bilderflut an ungewöhnlichem Ort

In Robert Lehningers Dresdner Theater-Adaption von Lars von Triers Film »Europa« spielt die Kamera eine Hauptrolle

Volker Trauth

Er gilt als einer der wesentlichen künstlerischen Beiträge zur frühen europäischen Nachkriegsgeschichte: Lars von Triers Film »Europa« (1991) - Eckpunkt einer Trilogie mit »Element of Crime« (1984) und »Epidemic« (1987). Die letzten Naziverbrechen des Zweiten Weltkriegs wie die ersten Deals der amerikanischen Besatzungsmacht mit der entnazifizierten deutschen Großindustrie kamen darin ins Blickfeld.

Verübt wurden die Verbrechen von der Naziorganisation »Werwölfe«, und Protagonisten des atlantischen Deals waren die einstigen Studienfreunde Harris und Max Hartmann, der mit seiner Transportfirma Tausende von Opfern in die Gaskammern geliefert hatte und nun den Amerikanern zu Diensten war. Mitten in die Wirren der Zeit im zerstörten Deutschland geriet der junge Deutsch-Amerikaner Leopod Kessler. Sein in Deutschland verbliebener Onkel hatte ihm eine Stelle als Schlafwagenschaffner in Hartmanns Imperium verschafft. Aus dem fahrenden Zug heraus sah er bettelnde Kinder und an Bäumen hängende Leichen, die von den »Werwölfen« wegen Zusammenarbeit mit den Amerikanern hingerichtet worden waren. Auf rätselhafte Weise geriet der junge Kessler in die Hartmann-Familie, verliebte sich in die Tochter Kat, heiratete die und musste erst zu spät erkennen, dass er von ihr als Helfer der »Werwölfe« missbraucht worden war. Zum Schluss sprengte er, gelenkt von Kat, über einem Fluss einen Zug in die Luft und ertrank in den Fluten.

In Dresden hat Robert Lehninger die Bühnenfassung von Ulrike Syha, die sich eng an die Dialoge des Films hielt, in Szene gesetzt. Die von den Darstellern mitgebrachte Kamera samt Stativ wird zum ständigen Mitspieler. Kaum eine Szene, die nicht in doppelter Variante zu erleben ist - neben der realen Szene steht die an die Wand geworfene filmische Überhöhung. Der Vorgang des Abfilmens wird wichtiger als die Wendungen und Drehpunkte des Gesprächs. Selbst die Szene, in der sich Leo und Kat das erste Mal körperlich nahekommen, wird vom Liebhaber in halsbrecherischer Position abgefilmt. Unabweisbar drängt sich da die von Barbara Sukowa in von Triers Film gespielte gleiche Szene zum Vergleich auf. Unter dem fast abwesenden, scheinbar gleichgültigen Gesicht der Darstellerin war da die innere Zerrissenheit der Figur zwischen nie erlebter echter Liebe und zwanghafter Abhängigkeit von den »Werwölfen« aufgebrochen.

An anderer Stelle vermittelt die Dresdener Darstellerin der Kat, Laina Schwarz, eine starke Intensität, wenn sie verzweifelt ihre Liebe glaubhaft machen will und sich im jähen Bruch trotzig als Mordkomplizin zu erkennen gibt. Darstellerisch lässt auch Thomas Eisen als Unternehmer Max Hartmann aufhorchen. Der schafft inmitten von Bilderflut und daueraufgeregtem Spiel einen bedeutungsvollen Ruhepunkt, wenn er beim Versuch seines Freundes Harris, ihn mit der erzwungenen Aussage eines Juden reinzuwaschen, vor Selbstekel erstarrt und vor seiner Fratze im Spiegel erschrickt.

Insgesamt aber überlagern wirkungssüchtige Hinzuerfindungen wie der Einfall, manche Szenen als ambitionierten Pas de deux (ein Ballett-Duett) tanzen zu lassen, die individuellen Abgründe und Defizite, also die zwischenmenschlichen Geschichten. Da hilft es auch nicht, dass der Regisseur in seinen Bilderfindungen die konkreten Gegebenheiten des Spielorts mit seinen bröckelnden Verzierungen als Metapher für eine vergangene Welt zur Wirkung bringen will.

Nächste Vorstellungen: 1., 2. November