Russischer Oppositioneller Gaskarow freigelassen

Vier Jahre nach den »Bolotnaja«-Protesten gegen Putin ist ein Aktivist wieder frei, andere sollen noch verurteilt werden

  • Ute Weinmann, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.

Exakt nach 1277 Tagen ist Aleksej Gaskarow wieder in Freiheit. Am Donnerstag nahmen Freunde und Familie den russischen Antifaschisten in Empfang, als er das Gefängnis von Tula, 200 Kilometer südlich von Moskau, verlassen durfte. Ein Gericht verurteilte ihn wegen Gewaltanwendung gegenüber Polizeibeamten und Teilnahme an sogenannten Massenunruhen am 6. Mai 2012 auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz unweit des Kremls zu dreieinhalb Jahren Haft.

Der Ort des Geschehens verlieh den folgenden Gerichtsprozessen seinen sprichwörtlichen Namen: der Bolotnaja-Fall, abgeleitet vom Wort Sumpf. Hunderte von Menschen wurden an jenem Tag vor der Wiedereinführung von Wladimir Putin ins Präsidentenamt bei einer genehmigten Demonstration vorübergehend festgenommen, über 30 sahen sich infolge mit Strafermittlungen konfrontiert.

Einige wenige profitierten von einer Amnestie, alle anderen fanden sich auf der Anklagebank wieder und erhielten größtenteils Haftstrafen zwischen zweieinhalb und viereinhalb Jahren. Aleksej Gaskarow rechnete damit, früher oder später in den Sumpf der Ermittlungen hineingezogen zu werden. Eine Emigration kam für ihn dennoch nie in Frage und die lange Haftzeit hat ihn in seinen Überzeugungen eher noch bestärkt.

Jener Weg und jene auf Freiheit und Demokratie basierende Werte, die auf dem Bolotnaja-Platz deklariert worden waren, seien nach wie vor aktuell. Eine Alternative dazu existiere nicht. »All diese Gefängnisse und Repressionen sind letztlich kein Mittel, das funktioniert nicht. Und ist auch nicht dazu in der Lage, Leute abzuschrecken, die mit uns auf einer Wellenlänge schwimmen«, sagte Gaskarow nach seiner Haftentlassung am Donnerstag. Das sind starke Worte, die seinem Umfeld Mut machen sollen und weitaus optimistischer klingen, als dies von Repressionen nicht betroffenen Gleichgesinnten zu hören ist.

Trotz der, unter anderem durch ausgiebige Zeitungslektüre, gelungenen Anstrengungen den Bezug zur Realität zu bewahren, gestand Gaskarow ein, dass die Haft einen starken persönlichen Einschnitt bedeutet. Allerdings machten es ihm die Solidarität und aktive Unterstützung von außen im Unterschied zum durchschnittlichen in die Mühlen der Justiz geratenen russischen Staatsbürger leichter, die Zeit im Gefängnis gut zu überstehen.

Aber es gibt auch die andere Seite, die der Angehörigen. Gaskarows Frau Anna, immer bemüht darum entlastendes Beweismaterial herbeizuschaffen, das vor Gericht keinen Bestand haben sollte, beschrieb eindrücklich, welche Bedeutung eine vermeintlich vertane Chance in Stresssituationen erlangt. Sich die eigene Hilflosigkeit einzugestehen, falle schwer. Zudem tun sich aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen Abgründe zwischen einem Inhaftierten und ihm nahestehenden Personen auf, die sich durchaus auch noch nach Beendigung der Haft auswirken können.

Ein Ende des Bolotnaja-Falls ist nicht in Sicht. Zum wiederholten Mal wurden jüngst die Ermittlungen um weitere sechs Monate bis kommendes Frühjahr verlängert und bald beginnt der nächste Strafprozess. Von der damaligen Oppositionsbewegung ist kaum etwas übrig geblieben, auch hält sich das öffentliche Interesse in Grenzen. Dieser Umstand dürfte dazu beitragen, dass die Strafverfahren immer absurdere Züge annehmen.

Seit Dezember 2015 sitzt der Anarchist Dmitrij Butschenkow in Haft, dem mehr Gewaltdelikte zur Last gelegt werden als seinen Vorgängern auf der Anklagebank. Dabei gibt es noch einen weiteren entscheidenden Unterschied: Butschenkow hielt sich am 6. Mai 2012 hunderte Kilometer entfernt in Nischnij Nowgorod bei seinen Eltern auf. Die Staatsanwaltschaft will ihn trotzdem auf zahlreichen Foto- und Videoaufnahmen erkannt haben, die einen durchtrainierten blonden jungen Mann zeigen, dessen Gesichtszüge lediglich entfernte Ähnlichkeiten mit Butschenkow aufweisen.

Ein weiterer Angeklagter, Maxim Panfilow aus Astrachan, wurde im Oktober kurzerhand für unzurechnungsfähig erklärt. Statt einer gewöhnlichen Haftstrafe wartet auf ihn die Psychiatrie. Das ist ein deutliches Signal an jene, die noch nicht vergessen haben, warum sie vor fast fünf Jahren für transparente Wahlen und mehr Demokratie auf die Straße gegangen sind.

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