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Stilistisches Durcheinander

Das DNT Weimar zeigt eine Bühnenfassung von Viscontis Film »Rocco und seine Brüder«

  • Volker Trauth
  • Lesedauer: 3 Min.

Es ist kein Zufall, dass in den letzten Monaten - parallel zu der Flüchtlingsdebatte - Theaterfassungen des Films »Rocco und seine Brüder« auf deutschen Bühnen herauskommen sind: zunächst an den Münchner Kammerspielen, dann am Staatstheater Hannover und nun am Nationaltheater Weimar. Die Geschichte von der Mutter Parondi, die mit ihren vier Söhnen aus dem italienischen Süden ins reiche Mailand aufbricht - dorthin, wo ihr ältester Sohn Vincenzo sein Unterkommen gefunden hat, handelt von der Landflucht aus den unterentwickelten Gebieten Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Weimarer Theaterfassung von Christian Weise und Beate Seidel hat einige Szenen herausgegriffen und in neue Zusammenhänge gestellt. War das Filmdrehbuch Viscontis in fünf Kapitel eingeteilt, die jeweils die Geschichte eines Bruders in den Mittelpunkt stellten, so konzentriert sich die Weimarer Fassung auf den Kampf der Brüder Rocco und Simone und deren ganz eigenen tragischen Untergang.

Wichtigste und strukturgebende Neuerung ist die Einführung der Migrationsgeschichte des Schauspielers Oscar Olivo, der auch die Rolle des Sohnes Luca spielt. Nach dem ersten Aufgehen des Vorhangs steht der junge Schauspieler allein auf der Bühne, einer rund 30 Quadratmeter großen Insel im weiten Rund der Hauptbühne, und erzählt: von seiner Kindheit in der Dominikanischen Republik, seiner Zeit an US-Universitäten und seiner Begegnung mit Deutschland und den Deutschen.

Dann ist er auf einmal Mitglied einer fünfköpfigen Familie, die nicht wie bei Visconti auf den in Mailand lebenden Bruder Vincenzo, sondern auf den in New York arbeitenden Vater wartet. Die Mutter spricht russischen Akzent und kommt nicht aus dem italienischen Süden, sondern ist eine Russlanddeutsche aus Kasachstan. Die beiden zentralen Erzählstränge - Aufbruch und Ankunft einer Familie und die Geschichte von Flüchtlingen - durchdringen sich.

Nachdem Olivo erzählt, wie er in den Bergen bei der Großmutter Heimat gefunden hat, betreten nacheinander zwölf Mitwirkende die Bühne und berichten von ihrer Suche nach Heimat. Der Kroate Krunoslav Sebrek (Simone) erzählt, dass er nach dem Zusammenfall Jugoslawiens nicht mehr weiß, was Heimat ist, die Schauspielerin Dascha Trautwein (Mutter Parondi) berichtet, wie sie als Russlanddeutsche anerkannt worden ist und der Weimarer Schauspieler Bernd Lange, dass er bei der Rückkunft von einem Gastspiel die Heimat DDR nicht mehr vorgefunden hat.

Die »Erinnerungsstunde« zieht sich über fast 30 Minuten hin und bläht sich zu einem Stehkongress auf. Die Hauptgeschichte der Familie Parondi gerät aus dem Blickfeld und kann nur mühsam wiederaufgenommen werden. Das geschieht in der Inszenierung (Christian Weise) dergestalt, dass der Darsteller des Rocco, der inzwischen in eine Uniform der Bundeswehr geschlüpft ist, in den Süden zurückehren will - so wie der Rocco im Film von Visconti. Wie dieser Rückkehrwunsch auf der Bühne in Szene gesetzt wird, spiegelt den gesamten Abend wider: Chor und Opernsänger marschieren auf und singen das Lied von den Fischern, die wieder aufs Meer hinausfahren, begleitet von einem kleinen Orchester; und auch die sich heimatlos wähnende Mutter fällt in den wehmütigen Gesang ein.

Später werden die Opernsänger Larissa Krokhina und Jaesig Lee den beiden stumm bleibenden Kontrahenten Rocco und Simone mit klassischem Gesang ihre Stimme leihen und der Chor den Tod der Hure Nadja mit einem feierlichen Choral kommentieren. Ebenso stillos wie die Wahl des darstellenden Personals die Wahl der stilistischen Mittel: Slapstick und Clownsspiel stehen neben Groteske und Tanzshow. Mit übergroßen Boxhandschuhen bewaffnete Schauspieler hämmern aufeinander ein und Rocco liefert vor seinem Boxkampf eine Tanznummer mit doppeltem Rittberger und Pirouette.

Das ambitionierte Durcheinander der ästhetischen Mittel und Stile überlagert die Glaubwürdigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen; die emotionale Wirkung des Films wird nicht erreicht.

Nächste Vorstellungen: 6., 20. November

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