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Antisemitismus ist nicht vergangen

400 Menschen gedachten in Moabit der Opfer der Reichspogromnacht von 1938

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 3 Min.

Die blau-weiß gestreifte Flagge mit dem roten Winkel in der Mitte durfte auch in diesem Jahr nicht fehlen: Am Mittwochabend erinnerten 400 Menschen in Moabit an die nationalsozialistischen Pogrome gegen jüdische Gotteshäuser und Geschäfte am 9. November 1938. Die Gedenkveranstaltung am 78. Jahrestag startete traditionell am Mahnmal in der Levetzowstraße. Die einst hier stehende Synagoge wurde in dieser Nacht beschädigt und später von den Nazis als Sammellager missbraucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das stark zerstörte Gotteshaus abgerissen.

Im Anschluss an die Gedenkkundgebung setzte sich ein antifaschistischer Demonstrationszug in Bewegung unter dem Motto »Es ist geschehen und kann wieder geschehen«. Die Route orientierte sich an dem Weg, den Berliner Juden durch Moabit bis zur Putlitzbrücke zurücklegen mussten. Von dem angrenzenden Bahnhof Westhafen wurden mehr als 32 000 Juden in die Konzentrationslager und Ghettos im Osten deportiert. An dem Denkmal für die Deportationszüge legten Teilnehmer des Gedenkmarsches Blumen und Kränze nieder.

Phillipp Müller von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) sagte: »Wir erinnern an das Novemberpogrom von 1938 und an die Millionen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen. Gleichzeitig wollen wir mit unserer Demonstration aktuelle Formen des Rassismus demaskieren und kritisieren. Antisemitismus und Nationalismus gehören in Deutschland leider keineswegs der Vergangenheit an.« Damit spielte er auf Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden an sowie auf die jüngsten Brandanschläge auf Flüchtlingsheime.

Gemeinsam mit einem Bündnis aus antifaschistischen und linken Initiativen organisiert die VVN-BdA das Gedenken in Moabit, das seit 1990 jährlich stattfindet. Müller freut besonders, dass Teilnehmer der Demonstration neben Fahnen der VVN-BdA auch Israel-Fahnen schwenkten. Er sagte: »Israel ist der Staat der Shoah-Überlebenden. Unsere Demonstration erklärt sich mit allen Opfern antisemitischer Gewalt und mit dem Staat Israel solidarisch.«

Ein besonderer Gast an diesem Mittwoch war der deutsch-australische Schriftsteller Walter Kaufmann. Der 92-Jährige wurde am 18. Januar 1924 als Jizchak Schmeidler in eine jüdische Familie in Berlin geboren. In seiner kurzen Ansprache auf der Kundgebung erzählte Kaufmann von der Pogromnacht, die er als 14-Jähriger in Duisburg erlebt hatte: »Ich sah eine große Menschenmenge vor der Synagoge stehen. Das Gotteshaus brannte. Die Feuerwehr unternahm nichts. Ich dachte mir: ›Du musst so schnell wie möglich weg von hier‹.« Seine Eltern seien kurz nach dem Pogrom verhaftet und in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht worden. Später seien sie nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. »Ich bin an meinem 15. Geburtstag, also am 18. Januar 1939, aus Deutschland mit einem Kindertransport nach England entkommen.« Dort wurde er als »feindlicher Ausländer« interniert und von der britischen Regierung nach Australien geschickt. 1957 übersiedelte er in die DDR. Heute lebt Kaufmann in Potsdam und ist im Ortsverband der VVN-BdA aktiv. Seine auf Englisch und Deutsch geschriebenen Kurzgeschichten erzählen von seinen persönlichen Erfahrungen als Flüchtling und jüdischer Emigrant.

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