nd-aktuell.de / 19.11.2016 / Kultur / Seite 16

Freie Bahn für das Absurde

»Der Fremde« von Albert Camus macht an der Schaubühne den Existentialismus fühlbar

Christian Baron

Ist die Hitze die ärgste Feindin des Verstandes? Wer den herkömmlichen und gefühlt zehn Monate des Jahres an Eiseskälte gewöhnten Mitteleuropäer bei hochsommerlichen Temperaturen auf der Straße beobachtet, kann kaum zu einem anderen Ergebnis kommen. Davon zeugen nicht nur die im Eifer des Verkehrsstresses sich meist bösartiger denn je entladenden Aggressionen. Auch das Meckern ob der das Blut in den Schläfen zum Pochen bringenden Himmelsglut ist eigentlich nichts anderes als Missgunst: Den wenigen Sonnenverliebten gönnen die Miesepeter und Miesepetras nicht einmal die paar lichtintensiven und die Menschen erfreulich effektiv von der Arbeit abhaltenden Tage.

Was wiederum sogar inmitten des ekelhaften Novembergraus selbst dem größten Fan des drückend heißen Wetters klar sein dürfte: Wenn die Sinne benebelt sind, hat das Absurde freie Bahn. Niemand ästhetisierte das stärker als der Existentialist Albert Camus in seinem 1942 erschienenen Roman »Der Fremde«.

Darin beschreibt Meursault, wie er zum Mörder wurde. Er hat einen »Araber« erschossen, und bei der Gerichtsverhandlung kann er einfach nicht sagen, wie das geschehen konnte. Mit seinem Freund Raymond, der kurz zuvor eine Frau bedrängt hat, sei Meursault am Strand dem Bruder dieser Frau begegnet. Eine Schlägerei brach los, der »Araber« zog blitzschnell ein Messer. Meursault griff seinerseits nach einem von Raymond ausgeliehenen Revolver und tötete den Angreifer. Ohne erkennbaren Grund gab er unmittelbar darauf vier weitere Schüsse auf den Leichnam ab.

Die unter Regie von Philipp Preuss im Studio der Schaubühne zu sehende Theater-Adaption des Prosatextes zeigt all das nicht. Stattdessen: die von Ramallah Aubrecht gebaute Bühne als Käfig mit grell leuchtenden Gitterstäben, einer Nebelmaschine, ein paar Wasserflaschen und drei mausgrau gekleideten sowie immer wieder die Rollen tauschenden Schauspielern (Bernardo Arias Porras, Iris Becher, Felix Römer). Sonst nichts - außer dem schwarzen Boden, über den das Wasser fließt (Hitze!). In Kombination mit eingespieltem Grillenzirpen reicht das aus, um das wichtige Problem in dieses Knastsetting einzupressen: diese Hitze, diese fürchterliche Hitze! Weil die Erzählung hier nicht werktreu und chronologisch verläuft, berichtet der Täter schon zu Beginn von der Verteidigungsstrategie des Anwalts. Notwehr und unbeabsichtigte Tötung fallen nach den vier Schüssen weg. Da bleibt nur noch, wegen der prallen Sonne auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren.

Camus manövriert seine Figur kunstvoll diesseits und jenseits der Lesersympathie umher und nimmt dabei konsequent ausschließlich die Perspektive des Täters ein. Preuss versucht, diesen lapidaren Grundgestus des Autors unverstellt auf die Bühne zu übertragen. Er vertraut ganz der literarischen Kraft dieses auf schlanke 90 Minuten Spieldauer eingedampften Textes und hält sich mit eigenen Ideen erstaunlich stark zurück. Das Trio auf der Bühne liefert eine sich erst allmählich zu einem Gesamtbild vervollständigende Charakterisierung des Protagonisten, der in seiner Zelle über das eigene so absichtslos sich anfühlende Leben zu reflektieren beginnt, wo er doch zuvor sein Dasein unbeteiligt an sich vorbeiziehen ließ.

Die im Roman schon in den ersten beiden Sätzen sich äußernde Gleichgültigkeit über den Tod der Mutter (»Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht«) flicht sich in die Handlung hinein, bis sie zum wichtigsten Beweis für die Schuld Meursaults und damit für dessen Hinrichtungsurteil herhalten muss. Schließlich habe er beim Begräbnis nicht geweint. Um das Innenleben dieses langsam aus seiner Lakonie erwachenden und durch die drei Meursault-Avatare wie eine Eisskulptur schrittweise mit Konturen versehenen »Fremden« entwickelt sich in dieser insgesamt spannungsarmen Darbietung immer dann Spannung, wenn auch die Nebenfiguren zu ihrem Auftritt gelangen.

Eindrücklich illustriert das der Auftritt des Priesters, der den Todgeweihten bekehren will. Da entwickelt sich ein Schlagabtausch zwischen dem zuvor maulfaulen Meursault und dem Geistlichen. Den Pfaffen bei der Soutane packend, betet der Verurteilte sein eigenes Glaubensbekenntnis gegen »dieses ganze absurde Leben« herunter und brüllt, er unterwerfe sich der »zärtlichen Gleichgültigkeit der Welt«. Andere Szenen plätschern so dahin, ohne dass sofort zu erkennen ist, warum von den vielen derzeit an Theatern gespielten Romanen gerade dieser für die Bühne geeignet ist.

Was sich als Schwäche auslegen lässt, erscheint in anderem Licht dann ebenso als Prinzip, das Camus vollends gerecht wird. »Man denkt nur in Bildern«, notierte dieser wunderbare Schriftsteller schon mit 22 Jahren in seinem Tagebuch. Und Preuss zwingt den Zuschauer, diese Bilder im Kopf zuzulassen. Zu technischen Mitteln greift er nur selten - und wenn, dann rundet es das stimmige Konstrukt ab. Sein spielendes Trio lässt er immer wieder das Rauchen imitieren, indem es Zeige- und Mittelfinger zum Mund führt, die Luft zischend einatmet und über eine handliche Nebelmaschine den nötigen Rauch erzeugt. Bisweilen kommen die Stimmen der Darsteller vom Band und die Sprechenden bewegen dazu synchron die Lippen. Und auch die derzeit am Theater gern genutzte Videoprojektion kommt zur Anwendung, um die dramatischen Ausbrüche des durch die Hitze benommenen Meursault zu verstärken. Alles Kniffe, die im Kopf des Betrachters diese entscheidenden Fragen aufkommen lassen: Warum? Und: Was soll das?

Antworten zu finden, das soll hier unmöglich sein, weil es in Existenzfragen immer unmöglich ist. Und diese eine, entscheidende Szene ist die Parabel auf diese Absurdität. Jeder der drei Darsteller trägt sie jeweils einmal vor - durch grelles Licht geblendet und auf einem Verhörstuhl im Bühnenzentrum sitzend: »Mir war, als öffnete sich der Himmel in seiner ganzen Weite, um Feuer regnen zu lassen. Meine Hand umkrallte den Revolver. Der Hahn löste sich, ich berührte den Kolben, und mit hartem, betäubendem Krachen nahm alles seinen Anfang. Dann schoss ich noch viermal auf einen leblosen Körper, in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es sah. Und es waren gleichsam vier kurze Schläge an das Tor des Unheils.«

Dieser »Fremde« ist erzählende Philosophie. Camus versucht nicht, seiner Geschichte ein Happy End oder einen Anker des Trosts zu verabreichen. Dem Publikum diesen Stoff ohne larmoyanten Schnickschnack zuzumuten, funktioniert im smartphonegetriebenen Zeitalter kurzlebiger Aufmerksamkeitsspannen nirgends so gut wie im Theater.

Nächste Vorstellungen: 13., 14., 15. Dezember