nd-aktuell.de / 26.11.2016 / Kultur / Seite 52

Qualität und Termintreue

Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR

Franziska Klein

Welcher Krebskranke, der nur noch wenige Wochen zu leben hat, würde sich nicht für die Erprobung eines Präparats zur Verfügung stellen, das den Tumor eventuell erfolgreich eliminiert? Auch solche Überlegungen sollten in der hitzigen Debatte um Medikamententests an Menschen bedacht werden.


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* Anja Werner u. a.: Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR 1983 – 1990. [1]Leipziger Universitätsverlag. 255 S., geb., 24,90 €.


In die vielfach unsachlich geführte Diskussion um Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR schalten sich jetzt Anja Werner, Christian König, Jan Jeskow und Florian Steger ein - kenntnisreich und wohltuend nüchtern. Sie artikulieren ihre Verwunderung über Medienberichte, die von »Menschenversuchen« oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit reden. »Eine fundierte systematische Aufarbeitung ist dringend geboren.« Sodann konstatieren sie, dass sich die DDR den internationalen medizinethischen Richtlinien für die klinische Forschung, wie sie in der Helsinki-Deklaration von 1964 erstmals festgeschrieben und in der Folge verfeinert worden sind, verpflichtet fühlte.

Da das Gesundheitswesen der DDR staatlich organisiert war, müsste es hier a priori weniger Möglichkeiten für Willkür und Kriminalität gegeben haben. Das Recht eines jeden Bürgers auf medizinische Versorgung war verfassungsmäßig garantiert und der Ablauf medizinischer Tests gesetzlich geregelt; im Anhang des Buches finden sich die entsprechenden Dokumente. Dass es aber dennoch durchaus Defizite, etwa bei der Aufklärung und dem Einverständnis von Patienten gab, belegt eine Aktennotiz des Beratungsbüros für Arzneimittel beim Ministerium für Gesundheitswesen von 1988. Dessen Leiter Joachim Petzold verlangte von den Prüfärzten, künftig »mehr als bisher auf die mündliche oder schriftliche Einverständniserklärung der Patienten zu achten, um damit auch politischen Diskussionen der in klinische Prüfungen inkludierten Patienten zu vermeiden«. Er betonte explizit, dass keine Unterschiede zwischen Richtlinien für ausländische oder inländische Partner gemacht werden dürften. Man darf dem Mann unterstellen, dass sein Gewissen ihn zu dieser Ermahnung bewog. Abgesehen davon: Die DDR-Führung fürchtete nichts mehr, als international an den Pranger gestellt zu werden. Warum sollte sie dies wegen westdeutscher Firmen riskieren? Selbst um der begehrten Devisen willen nicht.

Die Autoren berichten, dass der Bedarf nach einer Verständigung über ethische Fragen unter DDR-Ärzten zur Bildung einer Arbeitsgruppe Ethik in der medizinischen Forschung führte. DDR-Ärzte sahen in der Auftragsforschung auch eine Chance zu Wissensaustausch über den Eisernen Vorhang hinweg. Mehrere Interessen kreuzten sich hier. »Westliche Pharmaunternehmen vergaben klinische Prüfungen an die DDR, um die kostengünstige und kontinuierliche Entwicklung ihrer Präparate voranzutreiben. Sie schätzten die Qualität und Termintreue der klinischen Prüfungen in der DDR.« Die DDR wiederum sah eine Chance, ihre prekäre ökonomische Lage abzumildern. Zudem, so die Autoren, sei die Kooperation eine Folge der Globalisierung der Pharmaindustrie und des Arzneimittelmarktes gewesen. Moralische Entrüstung wäre da lächerlich.

Die Autoren studierten Akten privater westlicher Archive wie auch der staatlichen der DDR und befragten Zeitzeugen. Zwischen 1983 und 1990 nahmen an humanexperimentellen klinischen Prüfungen von 163 Arzneimitteln mindestens 16 000 Probanden teil, 92 Prozent waren Erwachsene. Die Tests wurden in der Gynäkologie, Augenheilkunde, Dermatologe, Immunologie und Pulmologie bis hin zur Psychiatrie und Neurologie durchgeführt. Erprobt wurden unter anderem Wachstumshormonpräparate, Mittel gegen Heuschnupfen und Asthma sowie eine Abtreibungspille. Die Autoren diskutieren die Patientenautonomie von minderjährigen Probanden und informieren, dass an den Studien alle neun medizinischen Hochschuleinrichtungen der DDR beteiligt waren, aber nur 22 Prozent der 312 Krankenhäuser. Im Fokus dieses Bandes stehen die heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.

Die klinischen Auftragsprüfungen liefen nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Staatsmonopols weiter, was sich nun als problematisch erwies. Denn mit dem Verlust des Alleinvertretungsanspruchs des Beratungsbüros für Arzneimittel, um dessen Erhalt Petzold bis zuletzt kämpfte, wuchs die Gefahr der Verstöße gegen DDR-Arzneimittelgesetze. Ganz ungeniert versuchten westliche Firmen, die zentrale Genehmigungspflicht zu umgehen und Verträge mit Ärzten direkt abzuschließen. Resümee dieses Bandes: So lange die DDR souverän war, hat es keine groben Verfahrensmängel gegeben. Die DDR-Arzneimittelgesetzgebung ist mehrfach überarbeitet worden, um den sich weiterentwickelnden internationalen Normen gerecht zu werden.

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